Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
hochklappbares Bett, ein Schreibtisch,
ein Stuhl – das war’s. Man dürfe nicht nach oben sehen, durch den Schlaucheffekt
käme einem die Zelle sonst noch kleiner vor. Das sagte jedenfalls Grasmann,
einer der Justizvollzugsbeamten. Er war ganz vernünftig, immer höflich, ab und zu
auch mal ein aufmunterndes Wort. Nur anfassen durfte man ihn nicht, unter keinen
Umständen. Ich hörte davon, wie ein Untersuchungshäftling ihm nur einmal kurz auf
die Schulter geklopft hatte. Blitzschnell hatte Grasmann ihm die Arme auf den Rücken
gedreht und Handschellen angelegt. Anschließend war er wegen Angriffs auf einen
Justizbeamten für drei Tage in die Isolierzelle gewandert. Bei so etwas kannte Grasmann
offensichtlich keinen Spaß.
Um 7 Uhr wurde das Frühstück gebracht,
danach passierte fast drei Stunden nichts. Niemand kam, ich durfte nicht in den
Hof, es schien fast, als hätte man mich vergessen. Wie den Grafen von Monte Christo.
In solchen Situationen unbestimmter Langeweile versuche ich meistens, mir Goethe’sche
Gedichte ins Gedächtnis zu rufen. Zu den meisten Lebenssituationen ist dem Altmeister
etwas eingefallen, und bekanntlich hatte er fast alle seine Eingebungen niedergeschrieben,
etwa 60 Jahre lang. Doch heute funktionierten meine Assoziationen mit Goethes Gedankenwelt
nicht. Die hässliche Gegenwart überlagerte die goldene Vergangenheit. Endlich, um
kurz vor zehn, wurde ich zur Vernehmung abgeholt. Ein Justizbeamter erklärte mir,
dass mein Anwalt da sei und wir vor der Vernehmung eine halbe Stunde Zeit hätten,
uns zu besprechen.
Der Vernehmungsraum hier im Untersuchungsgefängnis
unterschied sich kaum von demjenigen gestern Abend im Polizeipräsidium. Der Anwalt
erhob sich mühsam von seinem Stuhl, als ich eintrat.
»Dr. Franke«, stellte er sich vor.
»Dr. Wilmut«, entgegnete ich.
Er lächelte. »Hallo, Herr Wilmut!«
»Hallo, Herr Franke!«
Der Anwalt war ein sehr dicker Mensch.
Ich schätzte ihn auf etwa 60 Jahre, 1,70 Meter und 130 Kilogramm. »Herr Wilmut,
ich hoffe, Sie werden gut behandelt. Fehlt es Ihnen an irgendetwas?«
»Danke, alles in Ordnung. Was mir
allerdings fehlt, ist meine Freiheit.«
»Verstehe. Deswegen bin ich hier.
Bitte nehmen Sie Platz.«
Ich setzte mich.
»Zunächst darf ich Sie bitten, mir
eine Vollmacht auszustellen. Herr Kessler hat Ihnen das sicher schon angekündigt.«
Ich nickte und unterschrieb, ohne
den Text gelesen zu haben, vertragliche Regelungen waren mir jetzt egal.
»Wann kann ich hier raus?«, fragte
ich.
»Na, langsam, langsam. Der Haftprüfungstermin
ist für Donnerstagvormittag angesetzt, bis dahin muss ich noch jede Menge Informationen
sammeln und eine saubere Begründung schreiben. Dann bekommen Sie eventuell Haftverschonung,
müssen aber in der Stadt bleiben und sich wahrscheinlich einmal am Tag bei der Polizei
melden. Eventuell.«
»Übermorgen erst?«
»Herr Wilmut, ich verstehe Sie,
aber bitte seien Sie nicht so ungeduldig. Theoretisch könnten Sie bis zu sechs Monate
in Untersuchungshaft bleiben. Ich versuche gerade, daraus drei Tage zu machen.«
»Sechs Monate? Und das ohne Beweise?«
»Nun, drei blitzsaubere Fingerabdrücke
in der Wohnung des Ermordeten sind schon ein wichtiger Beweis. Aber – vertrauen
Sie mir bitte!«
Etwas anderes blieb mir gar nicht
übrig. Ich nickte. »Im Übrigen ist am Sonntag Landtagswahl, ich habe ja wohl ein
Recht, daran teilzunehmen, oder?«
Dr. Franke sah mich erstaunt an.
»Ich denke, zurzeit haben wir wichtigere Probleme.«
»Ich weiß nicht, wie Sie das sehen,
aber für mich ist es eine Verpflichtung, wählen zu gehen. Schon meine Eltern haben
das immer zelebriert, direkt am Wahltag, mit einem Glas Sekt hinterher und einer
kleinen Feier. Selbst Briefwahl kam für uns nie infrage.«
Der Rechtsanwalt schien nicht begeistert
zu sein. »Gut, ich habe Sie verstanden …«, er machte sich eine kurze Notiz, »dennoch
müssen wir uns zunächst um den Haftprüfungstermin kümmern. Wenn Sie am Donnerstag
freikommen, können Sie wählen, so oft Sie wollen.«
Ich holte Luft, um etwas zu entgegnen,
aber Dr. Franke unterbrach mich.
»Ich habe inzwischen Akteneinsicht
bekommen.« Er blätterte in seinen Papieren.
»Und?«
»Zunächst nahm die Polizei an, es
handele sich um einen Todesfall ohne Fremdverschulden …«
»Ja, das hat mir Siggi auch gesagt!«
»Wer?«
»Herr Dorst. Kriminalhauptkommissar
Dorst.«
Dr. Franke nickte. »Dazu kommen
wir noch. Jedenfalls hat sich inzwischen herausgestellt, dass
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