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Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut

Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut

Titel: Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Köstering
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Jedenfalls war der Junggeselle gut bestückt
mit Fertiggerichten.
    Als der Gerichtsvollzieher sein
destruktives Werk beendet hatte, konnte der hagere Mann seinen Fernseher wieder
hervorholen. So war es ihm wenigstens möglich, seine geliebten Sportsendungen und
die politischen Magazine zu schauen, alles andere interessierte ihn nicht. Im ersten
Programm lief ein Bericht über die Montagsdemonstrationen 1989 in Leipzig. Immer,
wenn er diese Bilder sah, bekam er ein schlechtes Gewissen. Er hatte in Leipzig
nie mitgemacht, später ärgerte ihn das maßlos. Er hätte diesem maroden Staat zeigen
müssen, was er dachte, was er fühlte, was ihn ärgerte. Aber er hatte es nicht geschafft.
    In den ersten Jahren nach der Wende
verdrängte er die Gedanken an sein Verhalten. Er verdrängte sogar die Gedanken an
seine gesamte DDR-Vergangenheit. Er fürchtete die Schmerzen ungeschönter Erinnerung.
Endlich, nach fünf oder sechs Jahren, begann er, darüber nachzudenken, warum er
versagt hatte. Inzwischen wusste er es: Angst. Ein Wort, das er selten gebrauchte.
Aber er musste es sich eingestehen. Er hatte Angst gehabt. Und er hasste sich dafür.
    Doch nun war die Zeit der Angst
vorbei.
     
    *
     
    Gegen 16 Uhr durfte ich eine Stunde mit den anderen Untersuchungshäftlingen
im Gefängnishof spazieren gehen. Bei herrlichem Sommerwetter versuchte ich, die
frische Luft zu genießen. Einige Männer standen an der Mauer und rauchten. Andere
liefen ziellos im Hof umher, nervös und aufgeregt. Ich begann mich zu fragen, was
jeder Einzelne von ihnen wohl verbrochen haben mochte. Sah man einem Menschen an,
dass er ein Mörder war? Sicher nicht. Mir sah man es ja auch nicht an, dass ich
kein Mörder war. Leider.
    Irgendwie geriet ich in eine Gruppe
von Männern, die sich laut unterhielten, sich anscheinend stritten. Ich war noch
völlig in Gedanken, als ich mich plötzlich in der Mitte dieser Gruppe wiederfand
und angerempelt wurde. Immer wieder, von allen Seiten. Einige johlten und pfiffen,
andere pöbelten mich an.
    »Du blöder Wichser, bild dir bloß
nicht ein, du wärst unschuldig, so was gibt’s hier drinnen nicht. Und die Büchler,
die alte Schlampe, kannst du voll vergessen!«
    Ich versuchte, mich zu wehren, doch
ich hatte keine Chance gegen sieben, acht kräftige Männer. Ich drehte mich mehrmals
um die eigene Achse, verlor komplett die Übersicht, schwankte, bekam einen Schlag
in die Nieren, die Luft blieb mir weg. Ich wollte zurückschlagen, boxte jedoch nur
in die Luft und erntete hämisches Lachen.
    Plötzlich stand Grasmann neben mir,
zog mich aus dem Knäuel von Männern heraus und stellte sich vor mich.
    »Was ist hier los?«
    Keiner antwortete. Alle blieben
ruhig stehen. Dann, ganz langsam, ohne dass ich es richtig bemerkte, verschwand
einer nach dem anderen im Gefängnisgebäude, bis Grasmann und ich allein auf dem
Hof standen. Er legte mir den Arm um die Schultern. »Alles halb so schlimm, das
kommt hier öfter vor. Da werden Sie sich noch dran gewöhnen!«
    Ich war mir ganz sicher, dass ich
mich daran nicht gewöhnen wollte.
    Trotz der Schlägerei hatte mir der
Aufenthalt an der frischen Luft gutgetan. Meine rechte Seite schmerzte zwar noch
von dem Schlag, aber es war erträglich. Grasmann hatte mir von der Krankenstation
eine Salbe besorgt, die den Schmerz linderte. Gegen 18 Uhr bekam ich das Abendessen
in die Zelle gebracht. Eine Tasse Kräutertee, zwei Scheiben pappiges Brot und etwas
Wurst. Mit der bekannten und von mir heiß geliebten Thüringer Wurst hatte das jedoch
nichts zu tun. Ich spülte eine Scheibe Brot mit der Hälfte des Kräutertees herunter,
den Rest ließ ich zurückgehen. Was hätte ich jetzt für ein frisch gezapftes Ehringsdorfer
Urbräu gegeben. Oder einen Espresso mit einer schönen hellbraunen, feinperlenden
Crema. Meine neue ECM-4 fiel mir ein. Sie stand immer noch halb ausgepackt im Wohnzimmer.
    Warum war ich hier gelandet? Hatte
ich etwas falsch gemacht? Die Fingerabdrücke musste ich wohl akzeptieren. Nur –
wie waren sie dort hingekommen? Langsam zweifelte ich an mir selbst. War ich wirklich
nicht in der Wohnung von Fedor Balow gewesen? Ich überlegte angestrengt, ob ich
diesen Mann vielleicht irgendwoher kannte. Aus Tiefurt sicher nicht. Natürlich konnte
ich ihn irgendwo gesehen haben, in einer Weimarer Kneipe, in Kromsdorf beim Fußball,
in der Denstedter Mühle, eigentlich überall. Ich konnte ihm begegnet sein, ohne
seinen Namen zu kennen. Vielleicht hatte er das Glas, aus dem ich

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