Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
rum und kann nichts machen«, antwortete ich.
»Was würdest du denn machen, wenn
du könntest?«
»Den Mörder suchen, natürlich.«
»Hendrik …, ganz ehrlich, selbst
wenn du morgen entlassen wirst, wie willst du als einsamer Wolf den Mörder
finden? Damals im Goetheruh-Fall hattest du zwar eine wichtige Rolle, aber du warst
nicht allein. Siggi hat die Ermittlungen geleitet, er ist ein Profi und hatte die
gesamte Polizeiorganisation hinter sich. Du kannst doch nicht allein einen Mörder
jagen!«
»Allein sicher nicht, das stimmt«,
sagte ich betont gelassen.
Es dauerte einen Moment, bis Benno
begriff, was ich meinte. Seine Augen weiteten sich. »Hendrik, du glaubst doch wohl
nicht …«
Ich unterbrach ihn mit einer schnellen
Handbewegung. Die Beamtin hob kurz den Kopf, vertiefte sich jedoch sofort wieder
in ihre Lektüre.
»Doch, doch«, erwiderte ich ruhig,
»genau das glaube ich.«
Benno nahm erneut seine Brille ab
und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Immerhin sind wir ja zu viert«,
ergänzte ich. Es war völlig klar für mich, dass Hanna und Sophie uns helfen würden.
Am liebsten hätte ich sofort mit den Nachforschungen begonnen, aber aus dem Gefängnis
heraus war das unmöglich. Also musste ich Benno überzeugen, das für mich zu tun.
Und zwar so, dass es nicht zu auffällig war, denn vielleicht registrierte die Beamtin
ja doch etwas von dem, was wir besprachen.
»Pass auf, Benno, ich sage dir jetzt
ein Gedicht auf. Bitte lerne es auswendig und schau danach im Internet.«
»Ein Gedicht? Bist du verrückt geworden?«
»Benno, bitte!«
Ich sah ihn flehend an, bis er endlich
einwilligte. Ich war nicht sicher, ob er die gesamte Dimension des ›Gedichts‹ ermessen
konnte, aber zumindest war er bereit, dem nachzugehen.
Nun stehst auch Du da wie ein
Tor!
Seine Lieben gehen vor,
Frauenstein und Jändertanz,
Sind nun Deine letzte Chance!
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Er sah mich entgeistert an. »Willst du mich veräppeln?«
»Benno, bitte!« Ich sah ihn mit
einem auffordernden Blick an, dem er nicht ausweichen konnte. Er fuhr sich mit der
Hand durch den Bart. Wahrscheinlich hielt er mich für einen Gefängnis-Neurotiker,
dem man besser seinen Willen lässt. Er rezitierte das Gedicht einige Male mit meiner
Hilfe, bis er es komplett beherrschte, inklusive der Absendercodierung.
Plötzlich riss er die Augen auf:
»Was soll das heißen …, deine letzte Chance? Bist du damit gemeint?«
Ich hob die Schultern.
»Mensch, Hendrik, du bist in Gefahr!«
»Kann sein, reg dich nicht auf,
bald komme ich hier raus.«
»Vielleicht, wenn Dr. Franke es
schafft, den Haftrichter zu überzeugen, aber selbst dann ist die Gefahr doch nicht
vorüber!«
Ich nickte. »Stimmt. Ganz wohl ist
mir dabei auch nicht.« Wir blickten uns beide an und waren uns einig, dass wir das
Wort Angst nicht aussprechen mussten, obwohl es hier angebracht gewesen wäre.
Typisch Mann, hätte Hanna jetzt gesagt. Und sie hätte recht gehabt.
»Siggi hat sich Urlaub genommen«,
berichtete Benno, wohl auch, um das Thema zu wechseln. »Kriminalrat Lehnert hat
ihn sofort von deinem Fall abgezogen. Obwohl Siggi vehement protestiert hat, ließ
sich Lehnert nicht weichklopfen. Daraufhin hat Siggi die Konsequenzen gezogen.«
Ich wusste nicht, was ich davon
halten sollte. Einerseits hatte ich natürlich erwartet, dass Siggi mir half, anderseits
konnte ich ihn kaum dazu überreden, gegen die Dienstvorschrift zu verstoßen.
»Ich habe gestern gleich versucht,
dich hier herauszuholen, leider vergeblich.« Benno hob die Schultern. »Ich war sogar
beim Polizeipräsidenten.«
Ich sah ihn fragend an.
»Du kennst ihn. Göschke.«
»Ach, Göschke ist jetzt Polizeipräsident?«
»Ja, ja, steiler Aufstieg für das
Fagott.«
Während des Goetheruh-Falls vor
sechs Jahren hatte ich Göschke kennengelernt, er war damals Kriminalrat und leitete
den gesamten Fall. Wegen seiner seltsamen Stimme hatte ich ihm den Spitznamen ›Das
Fagott‹ gegeben.
»Ich muss los«, meinte Benno, »ich
möchte noch zu Jasmin nach Umpferstedt, sie hat heute Geburtstag.«
»Braver Patenonkel. Schöne Grüße!«
»Danke und halt durch, Dr. Franke
tut sein Bestes!«
»Ach, Benno, darf ich dich um einen
weiteren Gefallen bitten? Rufst du bitte Dr. Knoche, unseren Bibliotheksdirektor,
an und sagst ihm, ich sei diese Woche verhindert. Ich habe zwar einen sehr offenen
Vertrag, aber eigentlich muss ich mich einmal pro Woche dort sehen lassen.«
»Ein offener Vertrag, was ist
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