Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
aber …«
»Karola, bitte, was ist los?«
»Ich habe eher den Eindruck, dass
es Mutter danach noch schlechter ging!«
8. Kapitel
Montag, 30. August 2004. Der Tag, an dem ich auf meine Mutter hörte.
M utter Hedda und ich frühstückten auf dem Balkon, mit Blick über den
Main. In der Ferne konnten wir die Frankfurter Skyline erkennen. Meine Mutter bewohnte
eine schöne Dreizimmerwohnung in der Waldemar-Klein-Straße 2, einer Seniorenwohnanlage
im Offenbacher Hafenviertel. Vor drei Jahren war das gesamte 32 Hektar große Areal
dank Oberbürgermeister Weber zum regionalen Kreativzentrum ausgebaut worden. Architektonisch
sehr ungewöhnliche, energiesparende Häuser, teils familiengerecht, ein paar kleine
Läden, Medien- und Dienstleistungsfirmen, Kindergärten, eine gut eingepasste Tiefgarage,
der imposante Neubau der bekannten Offenbacher Hochschule für Gestaltung und eben
dieser Platz für die Senioren, die gerne an der modernen Stadtentwicklung teilhaben
wollten. Abgesehen von der modernen Gestaltung hatte das Viertel noch etwas Besonderes:
Es zog sich direkt am Mainufer entlang. Und nicht nur das, man hatte einen schmalen,
künstlichen Mainarm mitten durch das Wohngebiet geführt. Einige Häuser hatten sogar
Bootsanlegeplätze. Im Volksmund hieß die Gegend deswegen liebevoll Klein-Amsterdam.
Als ich am Abend zuvor in Offenbach
angekommen war, blieb mir angesichts des Gipsarms keine andere Möglichkeit, als
Mutter von allen Geschehnissen der letzten Tage zu berichten. Eigentlich hatte ich
damit gerechnet, dass sie mir Vorwürfe machen würde, aber es kam anders. Sie erklärte
mir mit sehr ernsthafter Miene, dass dies erst der Anfang der Geschichte sei. Ich
solle mich darauf einstellen, dass mich jemand mit falschen Beschuldigungen und
Psychotricks zugrunde richten wolle. So deutlich hatte mir das bisher niemand gesagt.
Selbst Benno und Onkel Leo nicht. Ich nickte ihr mehrmals kurz zu und begann, unruhig
auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen. Dann erinnerte sie mich an ein Erlebnis
aus meiner Schulzeit. Ich war gerade ans Gymnasium gewechselt. Drei Mitschüler,
einen Kopf größer und zwei Jahre älter als ich, setzten mich ständig unter Druck,
bedrohten mich und verlangten Geld von mir. Die paar Mark waren nicht das Problem,
aber der psychische Druck jeden Morgen beim Betreten der Schule, das nervöse Umsehen,
Verstecken, Kleinmachen – das war das Problem. Mutter war nicht mit mir in
die Schule gegangen, hatte sich auch nicht bei den Lehrern beschwert. Aber sie hatte
stundenlang mit mir geredet, mir Mut gemacht, mich aufgebaut. So lange, bis ich
einem der drei entschlossen entgegengetreten war – vorsichtshalber hatte ich mir
den Schmalsten ausgesucht – und ihm erklärt hatte, dass ich alle drei bei der Polizei
angezeigt hätte. Gegen Rückgabe des Gelds und bei Einstellung aller Repressalien
sei ich aber bereit, die Anzeige zurückzuziehen, Zeitlimit bis heute Abend. Klare
Ansage. Meine Peiniger gingen darauf ein, und ich hatte fortan Ruhe. Goethe sagte,
Eltern sollten ihren Kindern zwei Dinge mitgeben: Wurzeln und Flügel. Die Flügel
hatte ich schon reichlich genutzt, jetzt waren die Wurzeln gefragt.
Gegen 8 Uhr am Montagmorgen verabschiedete
ich mich von Mutter Hedda, wobei sie nochmals meinen lädierten linken Arm begutachtete.
Plötzlich fing sie laut an zu lachen und konnte sich gar nicht wieder beruhigen.
Solche Lachanfälle waren nichts Ungewöhnliches. Ich kannte das von ihr und versuchte
herauszubekommen, was sie so amüsierte. Aber vor lauter Lachen verstand ich kein
Wort. Sie musste sich auf den Küchenstuhl setzen, um ihr Zwerchfell zu beruhigen.
Mein Gipsarm hatte sie an die Nachkriegszeit erinnert, als viele Menschen Probleme
mit Kriegsverletzungen hatten. Da gab es in der Weimarer Innenstadt ein kleines
Geschäft mit einem Schild im Schaufenster: ›Armamputierte erhalten bei der Maniküre
50 % Ermäßigung!‹
So war meine Mutter: Sie konnte
ernst und tiefschürfend sein, im nächsten Moment witzig und albern. Jedenfalls war
ihr Humor ein guter Start in den Tag. Ich hatte beschlossen, einfach schon um 8.30
Uhr auf dem Polizeirevier aufzutauchen, damit ich pünktlich in der Uni sein konnte.
Und es klappte tatsächlich, exakt um 9 Uhr stand ich im Hörsaal vor meinen Studenten.
Die literaturgeschichtliche Betrachtung der 20er-Jahre war das heutige Thema. Es
machte Spaß, die Studenten stellten viele Fragen und ich versank so im Thema, dass
ich Weimar für ein paar Stunden
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