Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
verdächtigen Personen – nichts. Von hier oben hatte
man einen guten Überblick. Drei Seiten des Turms hatte ich bereits abgesucht. Plötzlich
sah ich ihn. Den Mann im Jogginganzug. Er stand hinter dem Toilettenhäuschen des
Cafés und beobachtete mich. Und ich meinte, unter seinem Jogginganzug ein grünes
Hemd erkannt zu haben.
Augenblicklich nahm ich wieder die
hockende Schutzposition hinter dem Pfosten ein. Konnte das wahr sein? Oder fing
ich bereits an zu halluzinieren? Ich schlich mich erneut zu der Seite, von der ich
das Toilettenhäuschen im Blick hatte. Der Jogger war verschwunden. Fata Morgana
oder Tatsache? Dichtung oder Wahrheit? Ich versuchte, mir den Augenblick der Begegnung
noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Ein schlanker Mann, den man dürr nennen würde,
mit einem grauen Jogginganzug, der bereits lange aus der Mode war, die Kapuze über
den Kopf gezogen, das Gesicht dennoch gut zu erkennen. Mir fehlte der Mut, einfach
über die Tür zu klettern, zumal ich inzwischen realisiert hatte, dass mir der Gipsarm
dabei erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde. So blieb mir nichts anderes übrig,
als zu warten. Ich setzte mich auf den Boden, den Pullover über die Hüften heruntergezogen.
Um mich herum herrschte Stille. Kein Vogelzwitschern war zu hören. Ich schloss die
Augen.
Als ich das Blaulicht wahrnahm,
konnte ich nicht sagen, ob ich 20 Minuten oder zwei Stunden dort oben gesessen hatte.
Der Streifenwagen hielt direkt neben dem Goetheturm. Die Polizeibeamten brachten
einen Mann in dunkler Kleidung mit, der das Tor aufschloss. Sie begleiteten mich
nach unten. Auf meine Frage, wie sie mich gefunden hätten, brummte der eine Beamte
etwas von einem anonymen Anruf und dass sie mich jetzt nach Offenbach bringen würden.
Sie setzten mich direkt vor dem Hauseingang Waldemar-Klein-Straße 2 ab. Die Polizeibeamten
trugen grüne Uniformen, sie kannten meinen Namen und die Adresse meiner Mutter.
Ich war sehr müde und beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken.
9. Kapitel
Dienstag 31. August 2004. Der Tag, an dem Hanna einen Italiener traf.
Am Montagabend hatte Hanna nach zwei Tagen das dringende Bedürfnis,
Cindys Wohnung zu verlassen. Sie kam sich fast vor wie im Gefängnis, auch wenn sie
von Hendriks Schilderungen wusste, dass eine enge Zelle noch viel schlimmer war.
Bisher hatte es keinerlei Anzeichen einer Fahndung nach ihr gegeben, keine Zeitungsberichte,
keine Radio- oder Fernsehaufrufe, noch nicht einmal einen Steckbrief im Polizeirevier
– Cindy hatte das überprüft. Zuerst hatten sie überlegt, mit Cindys Auto außerhalb
von Weimar in den Wald zu fahren, entschieden sich jedoch gegen das Auto, da es
immer passieren konnte, dass man in eine Routinekontrolle kam oder geblitzt wurde.
Sie waren der Meinung, sich in der Menschenmenge der Weimarer Innenstadt unauffälliger
bewegen zu können. Außerdem benötigte Hanna dringend einige Drogerieartikel. Nachdem
sie den Einkauf erledigt hatten und alles gut gegangen war, konnten sie erleichtert
aufatmen.
Am Dienstagvormittag rief Karola
erneut an. Sie erklärte Hanna, dass sie gar nichts von Dr. Gründlich hielt, und
zwar in einer Tonart, die keinen Raum für Interpretationen ließ. Hanna fasste einen
Entschluss. Sie fragte Karola nach dem Namen des neuen Medikaments und versicherte
ihr, sich darum zu kümmern. Sie besprach ihren Plan mit Cindy. Zwei Stunden später
verließen sie beide das Haus. Die Taktik war dieselbe wie am Tag zuvor: sich unter
die Menschen mischen. Am leichtesten fiel ihnen das in den touristischen Zentren,
sodass sie beschlossen, sich einer Führung durch das Goethehaus anzuschließen.
Zur vereinbarten Zeit um 12 Uhr
gab es nur noch Karten für eine Führung auf Italienisch, doch das war ihnen egal.
Die Fremdenführerin schien eine in Deutschland lebende Italienerin zu sein. Als
sie die große Treppe erklommen hatten, rief sie: »Salve!« Goethes im Parkett eingelassene
Lieblingsbegrüßung passte wunderbar zu dem italienischen Vortrag. Die Gruppe hielt
sich eine ganze Weile auf dem oberen Treppenabsatz auf. Von hier hatte man einen
kompletten Blick in das von Goethe nach seiner zweiten Italienreise nachträglich
umgebaute Treppenhaus, das den Höhepunkt Goethes italophiler Phase darstellte –
für die Führerin natürlich ein dankbares Thema.
Endlich traten sie in den gelben
Salon ein. Hanna erkannte sie sofort. Sie stand vor der monumentalen Gipsbüste
des ›Zeus von Otricoli‹, mit dem Rücken zum Eingang.
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