Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
nicht verstand.
»Es war ihre eigene Entscheidung«,
sagte der Pfarrer, »diese Entscheidung haben wir zu respektieren, auch wenn es uns
schwerfällt.«
Er musste mit jemandem sprechen,
er musste wissen, wie Claudia ums Leben gekommen war. Auf den Zehenspitzen stehend
versuchte er, ein bekanntes Gesicht zu erspähen, was ihm zunächst nicht gelang.
Endlich glaubte er, ganz vorne Claudias Mutter erkannt zu haben. Er reihte sich
in die Menschenschlange der Kondolierenden ein. Zu seiner großen Überraschung erkannte
sie ihn sofort: »Du hier?«
»Ja, Frau Holzgrewe, ich … ich mochte
Claudia sehr.«
»Ich weiß, mein Junge.«
»Kann ich mit Ihnen sprechen?«
Frau Holzgrewe nickte kurz. »Warte
da drüben auf der Bank.«
Eine halbe Stunde später waren alle
Trauergäste gegangen und Claudias Mutter kam zu ihm herüber. Sie lief sehr langsam
und zog ein Bein nach. Mühsam setzte sie sich. Über ihnen spannten sich die mächtigen
Zweige einer Fichte.
»Du willst sicher wissen, wie Claudia
gestorben ist, oder?«
»Ja, Frau Holzgrewe … das würde
ich gern wissen.«
»Nun, sie hat sich das Leben genommen.
Sie ist bei Hochwasser in den Main gesprungen und ertrunken.«
Er war entsetzt, konnte für den
Moment nichts sagen. »Aber warum?«, fragte er schließlich, »Sie waren in den Westen
entlassen worden, das war es doch, was Sie alle wollten, oder?«
»Claudia und ihre Schwester durften
sofort in den Westen, meinen Mann und mich haben sie in verschiedene Stasi-Gefängnisse
geschleppt, verhört und schikaniert. Fast ein Jahr lang. Danach wurden wir in die
BRD abgeschoben. Mein Mann war ein Wrack, er starb kurz danach.«
»Oh nein!« Mehr zu sagen, war er
nicht imstande.
»Unsere Töchter waren in der Zwischenzeit
bei meinem Bruder und seiner Frau hier in Frankfurt, er hat sie gut betreut, aber
für Claudia war es trotzdem eine schlimme Zeit. Ihre Schwester hat das alles lockerer
gesehen.«
Er nickte.
»Claudia hat sich hier nie eingelebt«,
fuhr sie fort, »Freiheit ist gut, aber Freiheit allein nützt nicht viel. Das sagte
sie immer.«
Er sah sie fragend an.
»Sie meinte, Freiheit ohne Gerechtigkeit
tauge nichts, und so könne sie nicht leben.«
Er starrte vor sich auf den Boden.
Wie war er nur schon wieder in diese politische Diskussion hineingeschlittert? Er
wollte das eigentlich gar nicht. Andererseits war es ja nur die Schilderung von
Claudias Leben. Eine Schilderung, die, leicht abgewandelt, auch auf sein Leben gepasst
hätte. »Was ist passiert?«, fragte er.
»Claudia hat immer ihre Meinung
gesagt. Wie du weißt, hat ihr das schon damals in der Schule Schwierigkeiten eingebracht
…«
»Stimmt!«
»Ihr Chef fand das auch nicht gut,
sie verlor ihre Arbeitsstelle. Dann Arbeitslosengeld, sie hatte kein Vertrauen mehr
in diesen Staat.«
»In den Staat oder ihre Mitmenschen?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich
beides. Claudia hat solche Sachen sehr ernst genommen. Zudem hat sie sich selbst
die Schuld am Tod ihres Vaters gegeben, weil sie damals unbedingt in den Westen
wollte. Seit zwei Jahren litt sie an Depressionen. Ihr Freund hielt es nicht mehr
aus, hat sie verlassen. Obwohl ich persönlich versucht habe, ihn umzustimmen.«
Er sah sie betroffen an.
»War eigentlich ein netter Kerl,
ihr Freund«, sagte Frau Holzgrewe, »er kam auch aus Tiefurt, so wie du. Daniel Baumert,
kennst du ihn?«
»Ja«, antwortete er, »ich kenne
ihn!«
*
Mein Herz klopfte ungestüm, als ich die ›Bekanntmachung‹ sah. Ich setzte
mich neben einen der großen Pfosten des Goetheturms und machte mich ganz klein,
sodass mich von unten niemand sehen konnte. Die drei Kerle auf dem Gymnasium fielen
mir wieder ein, und ich wurde ruhiger. Ruhiger als in der Gefängnisdusche und ruhiger
als im Krankenhaus. Ich befand mich auf der untersten Ebene des Goetheturms, drei
bis vier Meter über dem Waldboden. Von hier trennten mich nur noch die Außentreppe
und die verschlossene Holztür von der Freiheit. Aber so lange dort unten jemand
auf mich wartete, würde ich es nicht wagen, über das Gatter zu klettern.
Ich hörte schnelle Schritte, fast
so, als seien es mehrere Personen, die dort umherrannten. Ich bewegte mich nicht.
Dann herrschte Ruhe. Zehn Minuten lang. Ich sah auf die Uhr, wartete weitere fünf
Minuten. Immer noch kein Geräusch. Vorsichtig lugte ich um die Ecke, um zu erkennen,
ob jemand unten am Fuß des Goetheturms stand. Danach schlich ich zur anderen Seite
und suchte dort ebenfalls nach
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