Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
Spanngummi zusammengehalten. Er zog es zur Seite und öffnete das
Büchlein an der Stelle, an der das Lesezeichen herausschaute. Regungslos sah er
auf die Liste. Der erste Name war bereits durchgestrichen. Der zweite würde bald
folgen. Der hagere Mann nickte zufrieden. Eigentlich brauchte er gar kein Notizbuch,
denn er hatte ein hervorragendes Gedächtnis und eine gute Konzentrationsfähigkeit.
Zusammen mit seiner körperlichen Fitness war dies sein größtes Kapital. Das Notizbuch
diente lediglich seiner persönlichen Erbauung. Seinem inneren Gleichgewicht.
Er schob die leere Kaffeetasse beiseite.
Ein Blick auf die Uhr signalisierte ihm, dass es Zeit war aufzubrechen. Er musste
zum Training. Sein Sport war das Einzige, was ihm geblieben war. Er zahlte, kämpfte
sich durch die Menge von Touristen, die vor dem Goethe- und Schillerdenkmal standen,
und erreichte gerade noch rechtzeitig die Bushaltestelle am Goetheplatz.
*
Ich setzte Karola vor dem Haus ihrer Mutter ab, ging aber nicht mit
hinein. Klug oder feige? Ich beschloss, mein Hirn heute nicht damit zu martern,
der Tag war bisher schon anstrengend genug gewesen. Während ich wartete, bis Karola
hineingegangen war, betrachtete ich Büchlers Haus. Ein großes verwinkeltes Gebäude,
dabei aber von klarer Linie, ohne Schnörkel, schätzungsweise aus den 20er-Jahren,
mit einem hohen Spitzdach, original mit Biberschwänzen gedeckt, innen ein riesiger
Kachelofen, der über entsprechende Züge das ganze Haus erwärmen konnte. Im Vorgarten
standen zwei Tannen – hoch und dunkel, wie seit Jahren schon. Es glich Großmutters
Haus. Deswegen fühlte ich mich hier so wohl.
Ich startete meinen alten roten
Volvo und lenkte ihn in Richtung Stadtmitte. Spontan entschloss ich mich, mir zum
Abschluss dieses Tages etwas Schönes zu gönnen: eine neue Espressomaschine. Meine
alte Gaggia hatte mir vor ein paar Tagen die Freundschaft gekündigt – nach 18 Jahren
eiserner Treue. Manchmal treibe ich sinnlose Zahlenspiele. So hatte ich an dem traurigen
Tag ihrer Verschrottung – der Kessel hatte einen Riss – ausgerechnet, wie viele
Tassen Espresso die Gute wohl für mich ganz uneigennützig bereitgestellt hatte.
Mit einem realistischen Schnitt von drei Tassen pro Tag kam ich auf eine Summe von
knapp 20.000. Tolle Leistung. Und nun war ich schon seit Tagen auf Espressoentzug.
Ich durchkämmte die ganze Stadt.
In der Schillerstraße gab es eine Kaffeebar, in der ich zunächst einen Espresso
trank. Leider fand ich in der Fußgängerzone jedoch keine Siebträgermaschine, nur
die üblichen Vollautomaten. Auch im Gewerbegebiet Nord wurde ich nicht fündig. Wahrscheinlich
musste ich in den nächsten Tagen nach Erfurt fahren. So kehrte ich nach Hause zurück.
Seit zwei Jahren wohnte ich am Rollplatz,
in einem alten, restaurierten Haus direkt neben der ›Brasserie Central‹. Meine Wohnung
in Frankfurt am Main hatte ich komplett aufgegeben und die Zweitwohnung in der Hegelstraße
in Weimar gegen diese größere und schönere Altbauwohnung getauscht. Meine Tätigkeit
als Dozent am Institut für Literaturgeschichte der Universität Frankfurt hatte ich
auf ein Minimum beschränkt und mich ansonsten einem Goethe-Forschungsprojekt im
Umfeld der Herzogin Anna Amalia Bibliothek angeschlossen. Dank unseres Institutsleiters
in Frankfurt konnte ich meine Vorlesungen alle 14 Tage, immer montags und dienstags,
halten. Dafür bekam ich die Aufgabe, eine literarische Brücke zwischen der Uni Frankfurt
und der berühmten Weimarer Bibliothek zu bilden, was mir viel Spaß bereitete.
Damals, vor zwei Jahren, hatte ich
sogar überlegt, mit Hanna zusammenzuziehen, doch sie wollte zunächst bei ihren Eltern
wohnen bleiben, insbesondere um ihre Mutter bei der Pflege des Vaters besser unterstützen
zu können.
Wie immer schaffte ich es nicht,
ins Haus zu gehen, ohne Thomas, dem Besitzer der Brasserie, einen kurzen Besuch
abzustatten. Dieser ›Besuch‹ beinhaltete mindestens einen Espresso, meistens zwei,
und einen zusätzlichen Averna mit Eis und Zitrone. Als ich ihm von meinem Problem
mit der Espressomaschine berichtete, lachte er lauthals. Warum in die Ferne schweifen,
sieh, das Gute liegt so nah! Ich solle nur hinüber in die Karlstraße gehen, da fände
ich alles, was ich brauchte. Im ›Café-Laden‹.
Als Gastronom wusste Thomas natürlich
Bescheid. Und er hatte recht. Der ›Café-Laden‹ war ein kleines, äußerst gemütliches
Café mit integriertem Geschäft. Links etwa zehn
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