Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
Sie würden die Wäsche bestimmt annehmen!«
Nach einer kurzen Denkpause drehte
sich der Schlüssel im Schloss. Siggi und Meininger entsicherten ihre Waffen. Die
Tür öffnete sich einen kleinen Spalt. Die Kette war noch eingerastet. »Geben Sie
her!«
Als der Mann in der Wohnung gerade
den Wäschebeutel in den Händen hielt, sprang Siggi hervor und trat so heftig gegen
die Tür, dass die Kette zerriss und der Mann in den Flur geschleudert wurde. Innerhalb
einer Minute war er überwältigt, die Wohnung durchkämmt, kontrolliert und ›sauber‹,
wie Meininger es nannte.
Siggi rief mich herein. »Im Wohnzimmer
sitzen zwei Männer, keine Gefahr mehr, beide in Handschellen. Schau sie dir an,
ob du sie kennst, und vor allem, ob Rico Grüner dabei ist.«
Der eine Mann hatte ein blaues Auge,
wahrscheinlich von Siggis Tritt gegen die Tür. Er war mir unbekannt. Der andere
war kräftig und breitschultrig. Es war nicht Rico Grüner.
»Den hier kenne ich nicht«, sagte
ich und deutete auf den Mann mit dem Veilchen.
»Kein Problem, ein alter Bekannter:
Jürgen Zöld.«
»Was sind das denn hier für Stasi-Methoden,
ich werde mich beschweren!«, rief Zöld empört.
»Der zweite ist uns unbekannt«,
sagte Siggi, »und er verweigert jegliche Aussage.«
»Kein Problem. Sein Name ist Grasmann.
Gunter Grasmann. Er ist Justizvollzugsbeamter.«
Siggi sah mich erstaunt an. »U-Haft?«
»Ja.«
»Okay, was der hier zu suchen hat,
klären wir später, jetzt gehen wir hoch zu Rico Grüner.«
»Wieso hoch …?« Zöld biss sich auf
die Lippen.
Unten im Erdgeschoss gab es nur
eine Wohnung ohne Namensschild. Rechts, direkt unter Jürgen Zöld. Siggi nahm das
Funkgerät: »Grüner wohnt im Erdgeschoss rechts, bitte übernehmen!«
Etwa zwei Minuten hörten wir gar
nichts. Plötzlich ein lauter Schlag, ein Geräusch wie eine fallende Tür und ein
wildes Stimmengewirr. »Polizei, kommen Sie heraus! Jeder Widerstand ist zwecklos!«
Wir warteten weitere zwei Minuten und gingen dann hinunter. Es war
ein unwirkliches Bild. Sechs oder sieben Männer des SEK sicherten jeden einzelnen
Raum, in ihren schwarzen Kampfanzügen und Helmen sahen sie aus wie von einem anderen
Stern.
»Der Vogel ist ausgeflogen«, konstatierte
einer der SEK-Leute.
Die Wohnung selbst war leer. Ich
glaube, ich hatte noch nie solch eine trostlose Behausung gesehen. Das Wort ›Wohnung‹
birgt ja in sich einen Hauch von wohnlich, gemütlich. Dies jedoch war nicht mehr
als eine Ansammlung von eingemauerter Luft, vielleicht noch nicht einmal das, denn
in der Küche stank es bestialisch. Etwa 20 leere Raviolidosen lagen herum, die Wand
voller Tomatenspritzer, zum größten Teil verschimmelt, kein Tisch oder Stuhl, kein
Herd, kein Kühlschrank, ein fest installiertes Waschbecken, aber kein heißes Wasser
und auch kein Strom.
»Was ist das denn?«, fragte ich
Meininger, auf die leeren Dosen deutend.
Er zuckte mit den Achseln, nahm
einen der Blechbehälter in die Hand und betrachtete das Etikett. »Vermutlich aus
meinem Keller«, sagte er. »Hatte schon länger den Verdacht, dass mich einer beklaut.«
In der Küche war nichts zu holen.
Ich musste mir ein Bild von Grüner machen, versuchen, seine Gedanken nachzuvollziehen,
sein Leben zu rekonstruieren, vielleicht würden wir ihm so auf die Spur kommen.
Siggi öffnete die Tür zum Bad. Kacheln in DDR-Optik. Über der Toilette hing ein
alter Bilderrahmen mit einem Gedicht.
Ein junger Mensch ich weiß
nicht wie,
Starb einst an der Hypochondrie
Und ward dann auch begraben.
Da kam ein schöner Geist herbei,
Der hatte seinen Stuhlgang
frei,
Wie’s denn so Leute haben.
Der setzt notdürftig sich aufs
Grab
Und legte da sein Häuflein
ab,
Beschaute freundlich seinen
Dreck,
Ging wohl eratmet wieder weg
Und sprach zu sich bedächtiglich:
»Der gute Mensch, wie hat er
sich verdorben!
Hätt’ er geschissen so wie
ich,
Er wäre nicht gestorben!
»Wer schreibt denn so einen Mist?«, brummte Siggi.
»Das kann ich dir sagen«, antwortete
ich, »ein gewisser Johann Wolfgang von Goethe.«
Er grinste und dachte offensichtlich,
ich hätte einen Scherz gemacht.
Im Wohnzimmer stand ein kleiner,
alter Fernseher auf dem Boden, ansonsten war der Raum komplett leer. An der Wand
hingen einige Bilder von dunkel gekleideten Männern mit langen Gewändern, Helmen
und einer Art Holzschwert in der Hand. Ich betrachtete sie eine Weile. Einer der
SEK-Beamten stellte sich neben mich.
»Hallo, Herr Wilmut!« Eine
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