Goetheruh
hin und her. Dann flüsterte er: »Aber sagt Anna auf keinen Fall etwas davon, sie meidet das Thema total und möchte auch nicht, dass ich mit jemandem darüber rede …«
Plötzlich sprach er wieder ganze, zusammenhängende Sätze.
»Abgemacht!«
»Annas Vater hieß Werner«, sagte Felix leise.
»Aha, von ihm hatte Jens also seinen zweiten Namen.«
»Richtig. Werner war Regimegegner. Er saß viele Jahre im Zuchthaus in Bautzen. Erst mit der Wende kam er frei.«
Felix schluckte. Es fiel ihm offensichtlich schwer, das zu erzählen. Benno und ich ließen ihm Zeit.
»Jens hatte danach ein sehr gutes Verhältnis zu ihm. Er vergötterte ihn regelrecht. Sie haben oft zusammen Gedichte gelesen, Fußball gespielt und all so was. Doch Werner zerbrach an seiner Vergangenheit. Ein knappes Jahr nach der Wende setzte er seinem Leben ein Ende.«
Man sah Felix immer noch die Betroffenheit an.
»Jens hat das nie verkraftet. Anna hat immer wieder auf das DDR-Regime geschimpft und wollte sich irgendwie rächen. Doch ich habe gefragt, wie sie sich an etwas rächen wolle, das nicht mehr existiert?«
»Jens war damit wahrscheinlich völlig überfordert?«, fragte ich.
»Ja, das stimmt. Er war ja erst zehn Jahre alt …« Erneut konnte er seine Tränen nicht zurückhalten.
»Weswegen war Werner im Zuchthaus?«
»Das weiß ich nicht, Anna hat es mir nie verraten, es spielt auch keine Rolle mehr.«
»Stimmt.« Ich ließ es dabei bewenden. »Eins würde mich noch interessieren: Wo hat Jens Klavierspielen gelernt?«
»Bei einer privaten Klavierlehrerin.«
»Wie heißt sie?«
»Das weiß ich nicht mehr, da müsste ich Anna fragen …«
»Es wäre wichtig. Könntest du dich bitte bei ihr erkundigen?«
In diesem Moment stand Anna in der Tür. »Wonach soll er sich bei mir erkundigen?«, fragte sie scharf.
Sie sah schlecht aus, sehr dünn, abgemagert, ihr Gesicht grau, die Haare ungekämmt, bekleidet mit einem verblichenen Bademantel.
»Hallo, Anna«, begrüßte ich sie und versuchte, einen milden, versöhnlichen Ton zu treffen, »wir möchten gerne wissen, wo Jens Klavierspielen gelernt hat …«
Sie unterbrach mich sofort: »Das geht euch einen Scheißdreck an, klar!«
Benno erschrak. »Anna!«
»Lasst uns in Ruhe, ihr Schwachköpfe, und lasst Jens in Ruhe, er kommt zurück, wenn er es für richtig hält. Und jetzt raus hier!«
Ich wandte mich Benno zu und deutete Richtung Tür. Ohne ein weiteres Wort standen wir auf und verließen das Haus. Desirees Bezeichnung ›unkooperativ‹ war sicher untertrieben – zumindest im Bezug auf Anna. Im Hinausgehen warf ich einen Blick in Jens’ Turnschuh: Größe 44. Es stimmte also tatsächlich.
Felix folgte uns vor die Tür und entschuldigte sich.
Von drinnen tönte es scharf: »Typisch, dir tut immer alles leid!«
Felix senkte die Stimme: »Ich glaube, Jens hatte wegen der Klavierlehrerin eine Zeitungsanzeige aufgegeben, mehr weiß ich wirklich nicht …«
»Danke, Felix!« Ich klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, dann drehte ich mich um und folgte Benno zum Auto.
Während der Rückfahrt rief ich Siggi an und erzählte ihm von der nicht passenden Schuhgröße und Jens Gensings Großvater. Wir entschieden, dass Ella die Angaben zu seinem Großvater überprüfen und dann herausfinden sollte, weshalb er nach Bautzen gekommen war. Siggi wollte außerdem nachforschen, ob Jens Gensing eine Anzeige wegen Klavierunterrichts bei der Zeitung aufgegeben hatte.
»Ist Jens Gensing jetzt aus dem Schneider?«, fragte ich.
»Sieht so aus«, brummte Siggi. »Trotzdem passt das überhaupt nicht zu der Erkenntnis aus seiner letzten E-Mail an Clarissa Singer …«
Wir waren ratlos.
Als Benno mich zu Hause absetzte, war es bereits 21 Uhr. Ich hatte den ganzen Tag über nichts gegessen. Durch die Unmengen von Kaffee in der Brasserie, beim Ministerpräsidenten im Hotel, bei Frau Singer, und schließlich mit Felix, hatte ich das bis jetzt nicht gemerkt. Doch plötzlich kam es durch, mit Macht, das nagende Gefühl im Bauch. Mit ein paar Handgriffen setzte ich Spaghettiwasser auf und mixte eine Hackfleischsoße mit Peperoni und Sambal Oelek. Während die Soße brutzelte, versuchte ich erneut, Hanna anzurufen, wieder ohne Erfolg, nur der Anrufbeantworter meldete sich Wenigstens hatte ich ihre Stimme kurz gehört. Danach ging ich nochmals den E-Mail-Verkehr zwischen Jens Gensing und Clarissa Singer durch, fand jedoch kein weiteres wichtiges Details. Ich rührte die Soße um und
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