Goetheruh
hatte Hanna vernachlässigt und die gestohlenen Exponate aus dem Goethehaus blieben weiterhin verschwunden. – Eine reife Leistung!
Immerhin hatte ich eine Verabredung mit Hanna zum Mittagessen bei Pepe. Ich beschloss, zuvor John zu besuchen, und wünschte Siggi viel Glück bei dem Versuch, Hans Blume auszuquetschen.
John saß wieder in seinem Sessel. Er hatte dort geschlafen, weil er sich nicht in das leere Ehebett legen wollte. Er sah sehr mitgenommen aus. Die Polizei hatte inzwischen seine Wohnung nach möglichen Spuren durchkämmt, aber nichts gefunden. Sie hatten drei Stunden mit John gesprochen, alle Möglichkeiten abgeklopft, mit Freunden und Bekannten geredet – nichts. Ich machte ihm eine Tütensuppe und räumte seine Wohnung auf. Dann gingen wir etwas spazieren und setzten uns in ein Eiscafé in der Schillerstraße. Es war ein ruhiger Freitagmittag in der Weimarer Innenstadt. Die Julisonne schien von einem klaren, blauen Himmel, eine angenehme Brise wehte durch die Stadt. In Frankfurt tobte zur gleichen Zeit der Verkehr, Leute rannten gehetzt umher und taten so, als seien sie unersetzlich. Nicht so in Weimar. Ein Stück provinzieller Beschaulichkeit schien hier gewahrt zu werden, die Menschen strahlten eine gewisse Behäbigkeit aus. Ich grübelte. War Behäbigkeit der richtige Ausdruck? Ich versuchte, der Stimmung nachzuspüren. Nein – es war keine Behäbigkeit, eher eine Art innere Ruhe.
Nach dem Cafébesuch fühlte sich John etwas besser. Ich ermunterte ihn, weiter nach Cindy zu suchen. Er beschloss, alles aufzuschreiben, was Cindy in den drei Tagen vor ihrem Verschwinden getan hatte. Das fand ich sehr gut – zumindest war er beschäftigt und schöpfte neue Hoffnung. Ich versprach ihm, nach dem Mittagessen wiederzukommen. Insgeheim hoffte ich, dass Hanna mich vielleicht begleiten würde.
Gegen 12 Uhr verließ ich John, um ein kleines Geschenk für Hanna zu besorgen. In der Pizzeria eine Rose zu überreichen, fand ich zu kitschig, so entschied ich mich für einen kleinen Gedichtband von Hölderlin.
Friedrich Hölderlin stammt aus der schwäbischen Kleinstadt Lauffen, nördlich von Stuttgart, nicht weit entfernt von Schillers Geburtsstadt Marbach am Neckar. Solche Städtchen schmücken sich heutzutage gerne mit dem Namen ihres berühmtem Sohnes: ›Hölderlinstadt Lauffen‹ und ›Schillerstadt Marbach‹. Weimar hätte, diesem Prinzip folgend, wohl einen ellenlangen Namen, der auf kein Ortsschild passen würde.
Eine halbe Stunde später traf ich in Pepes Pizzeria in der Windischenstraße ein. Hanna saß bereits hinten am Fenster und wartete. Sie trug eine weiße Jeans und eine blau-rote Sommerbluse.
»Hallo, Hanna«, sagte ich mit einer leichten Unsicherheit in der Stimme. Ich überreichte ihr das Büchlein und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Danke«, antwortete sie schlicht.
Ich setzte mich und sagte nichts. Ich wollte ihr das erste Wort überlassen.
Nach einer Weile brach sie das Schweigen: »Weißt du Hendrik, der Fall ist natürlich wichtig und es geht um seltene Kunstwerke, aber irgendwie … ich finde … du hast doch auch ein Privatleben.«
Ich hob zustimmend die Hand.
»Da brauche ich doch nur an Schiller zu denken«, fuhr sie fort, »der hat sich in seinen Elfenbeinturm zurückgezogen und seine Frau und Kinder zeitweise einfach ignoriert. Und Goethe hat das auch noch unterstützt!«
Das war die weibliche Sicht des großen Dichtertums, sicher irgendwie berechtigt.
»Manchmal glaube ich, dass Männer sich so in eine Sache verbeißen können, dass sie ihre Umwelt einfach vergessen!« Sie klang sehr aufgewühlt. »Du bist teilweise richtig besessen – fast wie dieser …« Sie sprach nicht weiter. Das war auch nicht nötig. Mein Hals war trocken.
Während ich überlegte, was ich zu meiner Verteidigung sagen sollte, fanden sich unsere Hände in der Tischmitte. Wie von selbst.
»Hanna …«
»Ja?«
»Entschuldige bitte!« Ich sah ihr tief in die blauen Augen. »Ich freue mich sehr dich wiederzusehen und verspreche, mich zu bessern. In Zukunft werde ich meine Umwelt nur noch wegen dir vergessen!«
Sie lächelte.
Ganz tief in mir begann sich eine scheinbar verschlossene Tür wieder zu öffnen.
»Es tut mir leid, dass ich dir den Ministerpräsidenten nicht abgenommen habe«, sagte sie, »ich hoffe, er war nicht böse?«
»Nein, nein, er war sogar sehr verständnisvoll, er hat ja auch … er hat Familie und kennt solche Situationen.«
Hanna lächelte. »Aber nun ist der
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