Goetheruh
Messer an den Hals.
»Bist du allein?«, zischte er.
»Nein«, gurgelte sie und ruderte mit den Armen.
Im selben Moment hörte er Schritte von oben.
*
Was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren: Ein Mann stand hinter Hanna und hielt ihr ein Messer an die Kehle. Sie starrte mich angstvoll an. Der Mann sah fürchterlich aus: Die Haare waren ungekämmt und verfilzt, seine Kleidung mit Flecken übersät, sein Blick fahrig, seine Augen unstet und suchend. Es dauerte eine Weile, bis ich die Situation erfasst hatte.
Dann sagte ich ganz ruhig: »Hallo, Jens!«
»Hallo … Hallo, Hendrik!«
Es wunderte mich nicht, dass er genau wusste, wer ich war.
»Danke für den Besuch«, sagte er.
»Gern geschehen.«
»Was … was willst du hier?«
In der Tat eine gute Frage. Ich durfte jetzt kein Risiko eingehen, ihn nicht reizen. »Ich möchte euch helfen.«
»Wie … wobei?«
»Ihr sucht doch persönliche Gegenstände von Goethe, oder?«
» Er sucht so was, ich nicht!«
»Er?«
»Wolfgang!«
Ich hatte richtig vermutet, er sprach von seiner zweiten Persönlichkeit.
Hanna warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu. Ich gab ihr ein Zeichen, ruhig zu bleiben.
»Wer … wer ist sie?«, fragte Jens Gensing.
»Das ist Hanna.«
»Deine Freundin?«
Ich überlegte, was nun am besten zu sagen sei, hatte aber nicht die Absicht, unsere Beziehung zu leugnen.
»Ja«, antwortete ich.
»Wolfgang hat keine Freundin, ich auch nicht!« Plötzlich kippte seine Laune. Er schrie mich an: »Warum hast du eine Freundin und wir nicht? Kannst du uns das erklären?«
Gedanken an meinen Großvater schossen mir durch den Kopf, die Alzheimer-Symptome, seine zunehmende Aggressivität, seine Entfremdung. Was hatte der Arzt uns damals geraten …? Ihn ernst nehmen, seine verborgenen Wünsche ansprechen. Validation hatte er das genannt. Ich musste es versuchen. »Ihr hättet wohl gerne eine Freundin, oder?«
»Natürlich, du Blödmann!« Er schrie nach wie vor.
Ich musste Ruhe bewahren, zumindest äußerlich. »Verstehe«, ich kann euch helfen, eine Freundin zu finden.«
»Ah, gut!« Er lachte. Das war wohl die richtige Strategie.
»Am besten, du gibst uns einfach deine Freundin«, rief er triumphierend.
Verdammt schlechte Strategie.
»Das finde ich keine gute Idee.«
»Haha, wir aber, wir aber!« Es klang wie ein schlechter Kinderreim. Damit zerrte er Hanna in Richtung Kellertür.
»Hendrik, tu was, bitte !«
Ich überlegte fieberhaft. Er hatte die Kellertür fast erreicht.
»Jens … äh, Johann!«
Er blieb stehen.
»Ich habe euch versprochen, eine Freundin zu suchen, doch Hanna hier, die ist nicht die Richtige, sie hat keine Ahnung von Literatur.«
Er blickte Hanna von der Seite an. »Stimmt das?«
»Ja, das stimmt!«, bestätigte sie.
»Hmm, das ist schlecht …«
Er fixierte mich. Seine Augen flackerten nervös. »Und du bringst uns eine bessere Freundin?«
»Ja, ganz sicher!«
»Ich weiß nicht, ob wir dir vertrauen können …« Er ruderte mit der rechten Hand in der Luft herum.
Ich musste ihn irgendwie an mich binden. »Und ich bringe euch einen beliebigen Gegenstand aus eurem Haus am Frauenplan mit!«
»Wirklich? Meinst du … meinst du das ernst?«
»Absolut!«
Er überlegte.
»Also gut. Dann bring das Tintenfass aus dem Arbeitszimmer mit. Du hast eine Stunde Zeit. Hat deine Freundin ein Handy?«
Hanna nickte.
»Dann ruf uns an, in genau einer Stunde!«
Damit zog er sie in den Keller, flink und geschmeidig, schneller als ich irgendetwas unternehmen konnte. Die schwere Holztür fiel zu und ich hörte drei Riegel einrasten.
In solchen Momenten gehen einem seltsame Sachen durch den Kopf. Unwichtige Sachen. Ich dachte zuerst daran, dass das Tintenfass heute zum ersten Mal seit über 150 Jahren Goethes Haus verlassen würde. Und ich würde es hinaustragen.
Ich stürzte nach draußen und rannte zum Auto. Wo war mein Handy? Ich wühlte nervös in der Mittelkonsole, kramte im Handschuhfach. Verdammt! Dann spürte ich etwas Hartes in meiner Brusttasche. Bloß keine Panik jetzt! Ein Blick auf die Uhr: 12.07.
Jens hatte sich sicher und gezielt bewegt, von Funktionsverlangsamung keine Spur. Offensichtlich hatte er seine Medikamente nicht genommen, seit er aus der Psychiatrie geflohen war. Umso unberechenbarer war er.
Zuerst versuchte ich es bei Siggi. Er nahm nicht ab. Dann bei Kommissar Hermann – besetzt. Wer nun? Benno! Er meldete sich sofort.
»Benno, ich brauch dringend deine
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