Goetheruh
der Zärtlichkeit in Trauer …«
Er strahlte: »Oh, ›An Luna‹, dass du das kennst – toll!«
Mir fiel ein zentnerschwerer Stein vom Herzen, Nicole war offensichtlich sehr nervenstark.
»… Nebel schwimmt mit Silberschauer «, zitierte Jens weiter, » um dein reizendes Gesicht .« Er verlor sich völlig geistesabwesend in das Goethe-Gedicht.
Erst viel später erfuhr ich, dass Siggi von allen an dem Einsatz beteiligten Beamten verlangt hatte, vorab die Akten zu lesen.
»Und – was ist jetzt mit dem Tausch?«, fragte ich auffordernd.
»Wir sind doch nicht blöd und … und tauschen eine Frau gegen zwei , ha!«
Er schwankte so, dass ich Angst hatte, er könnte mit Hanna die Kellertreppe hinunterfallen. Ich wollte schon zu ihr springen, da zog er sein Messer und setzte es Hanna wieder an die Kehle. »Bleib stehen!«, befahl er.
»Pass auf, du tust ihr doch weh!«, brüllte ich zurück. Vor lauter Angst um Hanna hatte ich vergessen, ihn im Plural anzureden.
Er grinste. Es war ein verschlagenes, krankes Grinsen. » Blut ist ein ganz besondrer Saft! «, zischte er und fuchtelte mit dem Messer an Hannas Hals herum. Ich musste mich zwingen, ruhig zu bleiben.
»Ach, ihr spielt jetzt also Mephisto?«
»Natürlich, schon … schon eine ganze Weile, diese Welt hier … hat uns dazu gebracht!« Dann schlug seine Laune von leiser Verschlagenheit wieder um in offene Aggressivität. »Also, was ist jetzt?«
Nicole hielt mich zurück. »Gut«, antwortete sie, »gebt ihm Hanna und ihr bekommt mich dafür!«
Ich zögerte. War das richtig? Konnten wir Cindy noch länger dort unten lassen zu Gunsten von Hanna?
»Einverstanden. Wie heißt du?«
Es lief ohne mein Zutun.
»Nicole!«
»Nicole?« Er grinste. »Nicole ist gut, das gefällt uns!«
Ein Strick flog auf mich zu.
»Bind ihr die Hände auf dem Rücken zusammen!«, befahl er.
»Ich?«
»Na wer denn sonst!?«
Ich versuchte, die Fessel relativ locker zu binden.
»Fester!«
Ich hatte keine andere Wahl.
»Herkommen!«, rief er hysterisch.
Nicole ging langsam auf Jens Gensing zu. Klugerweise ließ sie die schwere Kellertür zwischen sich und Jens Gensing, solange er Hanna in seiner Gewalt hatte. Plötzlich stieß er Hanna ruckartig von sich und griff blitzschnell nach Nicole. In Sekundenbruchteilen schlug er die Kellertür zu. Hanna sackte bewusstlos zu Boden.
Siggis Männer hatten das Ganze von der Haustür aus beobachtet und kamen sofort zu Hilfe. Sie trugen Hanna nach draußen an die frische Luft und legten sie in den Schatten auf die Wiese. Sie brachten Decken und kühle Getränke, und nach kurzer Zeit kam Hanna wieder zu sich. Ich stand zu dieser Zeit immer noch vor der Kellertür und konnte nicht fassen, was passiert war. Ich stand wie angewurzelt, unfähig, mich zu bewegen. Hanna war frei. Doch wo war sie geblieben, diese tägliche Leichtigkeit, die ungetrübte Chance auf ein bisschen Glück, die freie Sicht auf die Zukunft? Wo war sie geblieben?
Später, nach ausführlicher Analyse der Situation musste ich mir eingestehen, in einen Schockzustand gefallen zu sein.
Siggi kam näher und zog mich behutsam ans Sonnenlicht. »Ich lasse euch nach Hause bringen und kümmere mich hier um den Rest«, sagte er einfühlsam.
Wortlos nahm ich Hannas Hand und ging mit ihr zum wartenden Streifenwagen.
»Hegelstraße 35, dritter Stock«, sagte Siggi zu dem Streifenpolizisten, »bringen sie die beiden bitte hoch in die Wohnung!«
»Geht klar, Chef!«
Wir stiegen ein und ließen uns ohne ein Wort nach Hause bringen. Es war ein wunderschöner Sommertag, der strahlend auf uns herabschaute. Doch wir konnten ihn nicht genießen. Wir nahmen ihn nicht einmal richtig wahr, da wir Cindy und Nicole zu gleicher Zeit in dem Kellerverlies wussten. Mit viel Mühe erklommen wir die Treppe in der Hegelstraße, dann ließen wir uns in voller Montur auf mein Bett fallen. Der Polizist versicherte sich, ob auch alles in Ordnung sei, und wir nickten. Eine Minute später waren wir Arm in Arm eingeschlafen.
Dieser Samstag war mein letzter Tag bei der Sonderkommission JWG und zugleich einer der ungewöhnlichsten Tage meines Lebens. Und das, obwohl ich den ganzen Nachmittag verschlief. Immerhin hielt ich dabei Hanna im Arm, das war ungewöhnlich genug. Aber meine Mitmenschen fanden sicher andere Ereignisse viel aufregender. Ereignisse, die sich im Zentrum Weimars nahe der Herderkirche abspielten und von denen ich erst am Abend dieses Tages erfuhr.
Jens Werner
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