Goetheruh
glauben so viel zu wissen, doch von den Menschen selbst wissen wir eigentlich gar nichts. Ich komme mir mit meinen 50 Jahren vor, wie der berühmte Tor, der so klug ist als wie zuvor!«
Onkel Leo lächelte. »Als du ungefähr zehn Jahre alt warst, wolltest du unseren Gartenzaun abreißen, weil er dich beim Fußballspielen gestört hat, seitdem finde ich, bist du um einiges klüger geworden!«
Bennos Sekretärin brachte Kaffee und Schneewittchenkuchen. Wir machten es uns bequem und versuchten, in lockerer Atmosphäre Ideen auszutauschen. Der Kuchen war hervorragend.
»Was hat Frau Singer eigentlich mit der Sache zu tun?«, fragte Onkel Leo.
»Nun, sie stand die gesamte Zeit mit Jens Gensing in Kontakt«, antwortete ich, »aber lediglich per E-Mail, möglicherweise spielt sie die Rolle der Charlotte von Stein in der Welt des JWG2.«
Onkel Leo nickte. »Er hat sich also seine eigene Welt geschaffen, sozusagen die Welt des wiederauferstandenen Goethe?«
»Richtig, seine eigene Goethe-Welt mit Freunden und Feinden und allem Drum und Dran.«
Wir tranken Kaffee und ließen unsere Gedanken schweifen.
»Übrigens«, meinte Hanna, »wir haben bisher viel über seine Freunde philosophiert, vielleicht sollten wir auch mal über seine Feinde nachdenken …«
»Hmm …« Benno schien der Idee zugeneigt. »Sind wir nicht seine Feinde?«, fragte er.
»Schon«, antwortete ich, »aber Hanna meint wohl eher die Feinde Goethes, die auch Jens Gensing als dessen historische Feinde betrachtet, oder?«
»Ja, genau.«
»Diese Idee gefällt mir. Einige wurden nachträglich zu Goethes Feinden erklärt, aber zum Teil nur, um zu polarisieren und Bücher zu verkaufen. Das Thema Goethe ist ein lukratives Geschäft.«
»Du hast aber selbst gesagt, dass es Punkte an Goethe gibt, bei denen man kritischer Meinung sein kann«, warf Siggi ein.
»Natürlich, doch müssen die fundiert sein und gut recherchiert. Nicht so platt daherkommend wie dieser Hans-Jürgen … Dingsda.«
»Wer ist denn das?«
Ich winkte ab. Hanna warf mir einen wissenden Blick zu.
»Es gibt bestimmt noch mehr Leute, die das genauso simpel sehen wie dein Hans-Jürgen … Sowieso«, überlegte Benno.
»Und was ist mit den Verwandten der Frau, die angeblich ihr Kind getötet haben soll und mit der entscheidenden Stimme des Geheimrats zum Tode verurteilt wurde?«, fragte Onkel Leo.
»Na, ich weiß nicht …«, brummelte ich. Plötzlich ging ein Ruck durch meinen Körper. ›Es gibt bestimmt noch mehr Leute, die das genauso simpel sehen‹, hatte Benno gesagt. Unvermittelt stand ich auf. »Ich muss los!«
Onkel Leo setzte eine sorgenvolle Miene auf: »Was hast du vor?«
»Ich hab da so ’ne Idee …«
»Aber keinen Alleingang!« befahl Benno.
»Nein, nein, Herr Stadtrat, keine Sorge!«
»Ich passe auf ihn auf«, versicherte Hanna und erhob sich ebenfalls. Hand in Hand verließen wir Bennos Büro.
Wir fuhren Richtung Innenstadt. Ich war unruhig und Hanna bemerkte das.
»Was hast du vor?«, fragte sie.
»Wenn Bennos Idee stimmt, dann ist es Herder!«
»Wieso Herder? Ich dachte, du bist gegen diese Feindtheorie zwischen Goethe und Herder!«
»Ja, richtig, aber offensichtlich gibt es genügend Leute, die das anders interpretieren, das ist mir während der Buchrezension klar geworden. Und es ist gut möglich, dass Jens Gensing dazugehört, denk an seine verkorkste Literaturarbeit!«
»Und was machen wir jetzt?«
»Das weiß ich auch nicht genau, aber ich muss noch mal in die Herder-Kirche, am Original-Schauplatz kommt mir vielleicht eine Idee.«
Wir parkten direkt auf dem Herderplatz und gingen sofort in die Kirche. Wir ließen die Stimmung nochmals auf uns wirken, das Dunkle, ja fast Düstere dieses Bauwerks. Während wir neben der eisernen Gussplatte standen, die Herders Grab bedeckte, fiel mein Blick zum Cranach-Altar hinüber. Was mochte sich Jens Gensing wohl bei seiner seltsamen Arbeit gedacht haben? Es musste etwas mit dem persönlichen Verhältnis von Goethe und Herder zu tun haben. Schließlich entschloss ich mich, in Herders Wohnhaus weiter zu suchen, hier hatte Johann Gottfried Herder schließlich 27 Jahre gewohnt und gearbeitet. Ich gab Hanna ein Zeichen und wir gingen wieder hinaus.
Die grelle Mittagssonne blendete uns, wir blinzelten und brauchten einige Minuten, um uns wieder an das helle Licht zu gewöhnen. Das Herder’sche Wohnhaus liegt vom Herderplatz aus gesehen links hinter der Kirche. Leider wurde es gerade renoviert, überall
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