Goetheruh
Sohn Jens.«
Mit Jens Gensing hatte ich einen sehr schlanken und blass wirkenden jungen Mann vor mir. Seine Haare waren schlecht gekämmt, seine Kleidung unachtsam zusammengestellt. Ansonsten verhielt er sich wie seine Mutter: keine überflüssige Zurschaustellung von Emotionen. Zunächst wollte er mir die Hand geben, dann zog er sie aber mit einem knappen Hallo wieder zurück und sprach die gesamte restliche Zeit über nichts.
»Jens hat gerade sein Fachabitur gemacht«, erzählte sein Vater stolz.
»Mit einem sehr guten Durchschnitt!«, ergänzte seine Mutter. Sie hatte eine hohe, durchdringende Stimme.
»Toll«, gab ich zurück und drehte mich zu Jens um, »gratuliere!«
»Danke«, antwortete sein Vater. »Er ist unsere große Hoffnung!«
»Was willst du denn nach dem Abitur machen?«, fragte ich wieder an Jens gerichtet.
»Er will studieren, aber wir wissen noch nicht was«, erwiderte Anna Gensing.
Wir wissen noch nicht, was er studieren will.
»Auf jeden Fall soll er weg aus Weimar, um die Welt kennenzulernen«, fügte Felix hinzu.
Jens Gensing sagte nichts dazu. Jedoch lehnte er sich mit dem letzten Satz seines Vaters zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ich bestellte einen kleinen Imbiss: drei Spiegeleier mit Speck, zwei Brötchen, einen Obstsalat, einen Joghurt und einen großen Milchkaffee. Nach dem kleinen Frühstück brauchte ich etwas für meinen Magen. Felix und ich unterhielten uns angeregt über Montagabend. Es schien so, als hätte er sich von der anfänglichen Empörung über mein angeblich langweiliges Thema erholt. Er war offener geworden, und ich freute mich darüber.
»Ich finde es schön, dass du dich von unserer anfänglichen Kritik nicht …, dass du trotzdem unbeirrt weitergemacht hast«, druckste Felix herum, »aber es war in dem Moment – du weißt schon.«
»Ja, ich verstehe. Das war in Ordnung. Ich bin froh, dass ihr eure Meinung offen ausgesprochen habt. Die Fähigkeit zur Streitkultur ist wichtig«, sagte ich.
Felix nickte. Sein Sohn schwieg.
»Übrigens, Hendrik, stell dir vor, gestern wurde unser Auto gestohlen!«
»Gestohlen?«, rief ich.
»Ja«, bestätigte Felix, wohl etwas verwundert über meine heftige Reaktion.
Eigentlich wollte ich nichts mehr hören von jeglichen Diebstählen. Dann überwog jedoch mein Mitleid mit der Familie Gensing. »Was für ein Auto ist es denn?«
»Nun, ein alter Golf, ein roter … nichts Besonderes, im Prinzip eine alte Rostlaube, weißt du. Wir haben sehr oft daran herumgebastelt, wenn was kaputt war. Dann lief er wieder für eine Weile. Kein lohnendes Ding also.«
»Ich kenne jemanden bei der Polizei«, bot ich meine Hilfe an.
»Oh, gut, gut, könntest du mal fragen …?«
»Habt ihr den Diebstahl denn schon beim Polizeirevier gemeldet?«
»Nein, Anna meint, das sei nicht nötig, das bringe nur Unglück.«
Interessanter Standpunkt. Ich musterte Anna nachdenklich. »Wie gedenken Sie denn, das Auto wiederzubekommen?«
»Ich weiß nicht«, flötete sie und blickte zur Decke, »irgendwie habe ich das Gefühl, dass das Auto auch ohne unser Zutun wieder zu uns zurückkehrt.«
»Na schön, in der Zwischenzeit kümmere ich mich mal um eine polizeiliche Fahndung«, entgegnete ich leicht genervt. Ich ließ mir von Felix das Kennzeichen geben: WE - FG 223. Ich versprach ihm, mich der Sache anzunehmen. Mehr als einen Anruf bei Siggi wollte ich allerdings nicht investieren.
In diesem Moment kam eine ältere Frau mit einem Pudel herein. Sie setzte sich an den Nebentisch, der Hund legte sich brav neben ihren Stuhl. Gensings Sohn rückte mit seinen Stuhl ein Stück ab. Er sah den Hund mit einem Blick an, der Unbehagen signalisierte.
Ich streichelte den Pudel, der es sich gutmütig gefallen ließ.
»Du magst wohl Hunde?«, fragte Felix neugierig.
Ich schaute auf. »Oh ja, sehr sogar. Seit ich denken kann, hatten wir zu Hause Hunde, wenn ich nicht so viel unterwegs wäre, besäße ich auch einen.«
Anna räusperte sich: »Vielleicht waren Sie in ihrem früheren Leben ja mal ein … Hund?«
Unwillkürlich musste ich lachen. »Äh … wie meinen Sie das?«
»Nun, wir alle waren in unserem früheren Leben ein Tier, nicht wahr?«
Ich schluckte. Das schien ihr voller Ernst zu sein. Am liebsten hätte ich ihr jetzt klar entgegnet: ›Nein , nicht wahr!‹ Aber das wollte ich Felix nicht antun. »Aha, Sie sprechen von Reinkarnation?«, fragte ich stattdessen vorsichtig.
»Ja, genau, ich war einst ein Kolibri, und das hilft mir
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