Goetheruh
mir ein, er hätte mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Also taumelte ich zum Telefon. Mehr als ein schwaches Hallo brachte ich jedoch nicht heraus. Die Stimme am anderen Ende übertraf alle meine Erwartungen. »Guten Morgen, Hendrik, hier ist Hanna. Wie geht’s dir?«
»Oh, Hanna, nicht gut, entschuldige, ich bin heute irgendwie …«
»Du klingst ja furchtbar«, meinte sie besorgt. »Soll ich nicht besser vorbeikommen und nach dir sehen?«
»Ach, das musst du nicht. Nur wenn du möchtest …«
Sie erwiderte noch etwas, aber das verstand ich nicht mehr. Die Tabletten begannen zu wirken und versetzten mich in einen schlafähnlichen Dämmerzustand. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Es duftete nach Kaffee und Toast, und aus der Küche kamen leise Geräusche. Mein Kopf fühlte sich wesentlich besser an und ich richtete mich langsam auf. Hanna kam mir entgegen und lächelte. Sie trug ein leichtes, rot-weißes Sommerkleid und sah aus wie einem Monet-Gemälde entsprungen.
Ich war begeistert. »Wie bist du hier hereingekommen?«
»Ich habe deine Frau Semarak aus dem ersten Stock überredet, mir aufzuschließen. Wir waren beide sehr besorgt um dich. Ich glaube, sie mag dich auch sehr gern.«
Das ›auch‹ hatte ich registriert.
»Wenn sich gleich zwei Frauen um mich Sorgen machen, geht es mir sofort viel besser!«
Sie lachte, und ihr Lachen war wie eine leichte Brise an einem heißen Sommertag.
»Wie spät ist es?«
»Halb eins.«
»Ach, du liebe Zeit, habe ich so lange geschlafen?«
»Ja, möchtest du ein Spiegelei?«
»Zwei, bitte.«
Der Tisch war bereits gedeckt, alles nett arrangiert, mit einem kleinen Blumenstrauß, einer Kanne Kaffee und der Zeitung – ja, sogar daran hatte sie gedacht – einladend und fröhlich, unverkennbar von Frauenhand. Unvermittelt fiel mir Siggis Gedicht ein.
Lerne nur das Glück ergreifen,
Denn das Glück ist immer da.
Ein wohliges Gefühl überkam mich. War das Glück? Ja, das war Glück! Sollte ich es wagen, dieses Glück zu ergreifen?
»So, jetzt wollen wir erst mal unser Frühstück genießen«, verkündete Hanna gut gelaunt, als sie mit den Spiegeleiern aus der Küche kam.
»Ja, das werden wir, und vielen Dank. Das sieht alles hervorragend aus.«
Wir blickten uns in die Augen und erkannten, dass uns etwas verband. Vielleicht war es die gemeinsame Erkenntnis zweier Menschen, die schon einen guten Teil ihres Lebens hinter sich gebracht hatten und wussten, dass die Zeit kostbar war.
Wir aßen und tranken Kaffee, ohne viel zu reden. Später inspizierte Hanna meine Bücherregale. Allgemeine Literaturwissenschaften und Sekundärliteratur zu Goethes Werken nahmen den größten Raum ein.
»Hast du denn keine Bücher über Literatur geschichte ?«
»Doch«, antwortete ich, »aber die sind alle in Frankfurt, hierher komme ich, um etwas anderes zu arbeiten oder um abzuschalten.«
»Verstehe. Was genau machst du eigentlich an der Uni?«
»Oh, das ist eine lange Geschichte«, erwiderte ich.
»Ich habe mir heute extra freigenommen.«
Unglaublich, diese Frau!
»Um mit mir über meine Arbeit zu sprechen?«
»Zum Beispiel.«
»Na gut.« Ich schluckte den letzten Bissen meines Brötchens hinunter. Dann erzählte ich ihr von meiner Lehrtätigkeit, von den Studenten und ihren Eigenheiten, von dem Fachbuch, das unser Institutsleiter gerade schrieb und zu dem ich ein Kapitel beisteuern durfte sowie von dem Forschungsprojekt, mit dem ich gerade beschäftigt war. »Wir betreiben dieses Projekt zusammen mit dem Institut für Kulturpsychologie, Thema ist das kulturelle Selbstverständnis verschiedener Epochen, zu dem natürlich auch die Literatur gehört.«
»Um welche Epochen geht es da im Speziellen?« Sie strich sich Erdbeer-Rhabarber-Marmelade aufs Brötchen.
»Wir beschäftigen uns vorwiegend mit den kulturellen Veränderungen in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute.«
»Gibt es denn zwischen der Nachkriegszeit und heute so große Unterschiede?«
»Und ob! Stell dir mal vor, ein Mensch aus den 50er-Jahren würde unvermittelt und ohne Vorwarnung in die heutige Zeit geworfen – sozusagen in einer Art retrospektiven Zukunftsreise. Dieser Mensch würde feststellen, dass die Leute in der heutigen Zeit ihre Türen stärker verschlossen halten, dass sie Angst haben, ihre Kinder in der Schule durch einen Amokläufer zu verlieren und dass es viel mehr allein stehende Personen als zur damaligen Zeit gibt, die sich zudem auch oft
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