Goetheruh
sehr, mein heutiges Wesen und meine Aura zu verstehen.«
Kein Zweifel, diese Frau war vollkommen überzeugt von dem, was sie sagte. Ich schwieg, auch wenn es mir schwerfiel.
»Da kommt dein Essen«, rief Felix, offensichtlich erleichtert, vom Thema ablenken zu können.
Hungrig machte ich mich über meinen kleinen Imbiss her. Die Unterhaltung musste warten. Gensings tranken nur Tee und Saft, und sprachen über das Wetter, während ich aß. Trotz der offensichtlichen Spannung innerhalb der Familie schienen sich Felix und Anna sehr nah zu sein. Sie tauschten hin und wieder verständnisvolle Blicke und berührten sich zärtlich an den Händen.
Als ich beim Obstsalat angekommen war, sah Felix auf die Uhr. »Wir sollten jetzt gehen«, sagte er eindringlich zu seinem Sohn, »du … also … wir müssen zurück.«
Nach ein paar höflichen Worten entschwanden die drei, ein besorgter Familienvater mit seinem schweigsamen Eleven und seinem Kolibri.
Der nächste Morgen war der reinste Horror. Ich schlug die Augen auf, sah hinauf zur Zimmerdecke und überlegte, ob ich meinen Kopf überhaupt jemals wieder bewegen sollte.
Es war sehr spät geworden gestern Nacht, bis weit nach Mitternacht hatte ich an der Buchrezension gearbeitet. Für dieses Buch, das mir so gar nicht gefiel. ›Goethes Feinde‹, von einem Hans-Jürgen Dingsda. Ich konnte mir einfach nicht den Namen des Autors merken. Auch bin ich nicht der Typ, der sich gerne mit solch einem für mich negativ behafteten Thema auseinandersetzt. ›Goethes Freunde‹ wären mir lieber gewesen. Stundenlang hatte ich in meinen Büchern und im Internet nach Goethes Feinden recherchiert. Newton war klar, sein Intimfeind sozusagen. Goethe hatte sogar die Spektralzerlegung des Lichts angezweifelt, wohl einer seiner eklatantesten Fehler. Damals sprach man ironisch vom Gerichtsprozess ›Goethe gegen das Spektrum‹, womit dieser indirekt aufgefordert wurde, bei seinem erlernten Beruf der Juristerei zu bleiben. Auch Kant war Goethe gegenüber eindeutig missgestimmt. Goethe war massiv gegen dessen kategorischen Imperativ vorgegangen. Da konnte ich ihn verstehen, denn welcher Mensch kann sich schon so verhalten, dass sein Handeln immer zugleich Gesetz werden könnte? Eindeutig zu hoch gegriffen. Kant und sein philosophisches Tunnelsyndrom. Unmenschlich. Gottgleich. Eigentlich fast blasphemisch. Nur bei Herder hatte ich gewisse Zweifel. Ich hatte ihn bisher nie als Goethes Feind gesehen, wenngleich die beiden sich einige Zeit voneinander entfernt hatten. Goethe war zu lebenslustig und Herder zu streng moralisierend gewesen. Später hatten sie wieder zueinandergefunden, im Geistesaustausch, wie damals zu Studientagen in Straßburg. Goethe hatte sogar eine viel beachtete Rede an Herders Grab gehalten. Nein – ein Feind Goethes war Herder nicht gewesen, da irrte sich Hans-Jürgen Dingsda. Nach meiner Arbeit an der Buchrezension war ich so aufgedreht, dass ich nicht einschlafen konnte und genehmigte mir noch eine Tiefkühlpizza, zwei Flaschen Bier und einen drittklassigen Western.
Das Wetter hatte über Nacht umgeschlagen, der Himmel war stark bewölkt und es nieselte. Auch das trug sicher zu meinem desolaten Zustand bei. Der Kopfschmerz saß wie eine brennende, klopfende Kugel kurz hinter meinem rechten Auge. Da wo er immer sitzt. Auch spürte ich eine leichte Übelkeit aufsteigen. Ich suchte die gesamte Wohnung nach Migränetabletten ab, konnte aber keine finden. Eine heiße Dusche mit anschließendem Kälteschock bewirkte wenig. Vorsichtig zwängte ich mich in eine alte Jeans und warf mir ein buntes Hemd über. Ich sah auf die Uhr – kurz nach zehn. Nur mit meinen alten Schlappen an den Füßen schlurfte ich hinunter und schleppte mich durch den Nieselregen bis zur Apotheke in der Schubertstraße. Die Apothekerin sah mir wohl an, dass es besser war, nicht viel zu reden und beschränkte die Kommunikation auf ein Minimum. Ich deutete auf eine Tablettenpackung und setzte meinen dankbarsten Blick auf. Zurück in meiner Wohnung nahm ich zwei Tabletten und musste mich sehr beherrschen, um meinen Magen im Zaum zu halten. Kurz nachdem ich die Kaffeemaschine angestellt hatte, klingelte das Telefon. Oh nein, bitte nicht! Nicht jetzt. Erstaunlicherweise gehorchte das Gerät und beendete sein Klingeln auf der Stelle – Erleichterung.
Sekunden später jedoch erneutes Läuten, schrecklich laut und durchdringend. Das Gespräch mit Siggi kehrte in mein Bewusstsein zurück und ich bildete
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