Goetheruh
behutsam fort: »Und, wenn ich fragen darf, wie sind Sie aus diesem … Tief wieder herausgekommen?«
»Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber ich habe angefangen zu lesen.«
Ich hob erstaunt den Kopf: »Und das hat geholfen?«
»Ja, das hat geholfen!«
Ich sah ihn etwas verblüfft an.
»Ich kann mich dabei gut entspannen. Außerdem habe ich dadurch erkannt, dass es vielen Menschen schlechter geht als mir, und die haben sich trotzdem durchgebissen, warum also nicht ich?«
Ich nickte zustimmend.
»Am Anfang habe ich nur Trivialliteratur gelesen, inzwischen auch tiefgründigere Sachen, seit Kurzem lese ich sogar Gedichte.«
»Ach – interessant. Welche Art von Gedichten?«
Er zeigte auf das Buch, das auf seinem Schreibtisch lag, und machte eine einladende Handbewegung. Ich öffnete es dort, wo das Lesezeichen hervorlugte. Dann begann ich zu lesen:
›Willst Du immer weiter schweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah,
Lerne nur das Glück ergreifen,
Denn das Glück ist immer da.‹
Es kommt in der heutigen Zeit selten vor, dass Männer Gedichte lesen. Zumindest aus privaten Gründen, nur für sich. Und wenn, dann würden die meisten es nicht zugeben.
»Ich finde es toll, dass du Gedichte liest«, sagte ich.
Er beugte sich vor und reichte mir die Hand über den Tisch. »Ich heiße Siegfried, kannst mich auch Siggi nennen.«
»Hendrik.«
»Natürlich darf ich im Dienst nichts trinken«, raunte Siggi mir zu, »aaaber …« Er ging zum Schrank und öffnete die Tür. Erich knurrte. »… In einem solchen Fall müssen wir einen Verdauungsbeschleuniger nehmen – aus rein gesundheitlichen Gründen natürlich!«
»Selbstverständlich!«, bestätigte ich.
In Frankfurt oder Wiesbaden wäre jetzt ein Jägermeister zum Vorschein gekommen oder ein Ramazotti. Nicht so in Thüringen: Hier gibt es Aromatique – kurz Aro genannt – einen bereits zu sozialistischen Zeiten sehr beliebten Kräuterschnaps.
Siggi füllte zwei Schnapsgläser, und wir prosteten uns zu. Gläserklappern. Schranktür zu.
»Alle Spuren beseitigt?«, lachte ich.
»Alle Spuren beseitigt«, bestätigte er vergnügt.
Ich legte die vorläufige Textanalyse auf den Tisch. Neugierig griff Siggi nach dem Papier und begann zu lesen.
»Kann ich dir ein paar Fragen stellen?«, wandte er sich wieder an mich, nachdem er fertig war.
»Nur zu.«
»Woher hat der Täter wohl diese profunden Goethe-Kenntnisse? Sind sie so detailliert, dass man Zugang zu speziellen Fachbüchern haben muss? Oder kann man dieses Wissen in öffentlichen Bibliotheken und übers Internet erlangen?Braucht er dazu ein Studium, oder reicht eine gute Schulbildung, gepaart mit einem literaturinteressierten Elternhaus und reichlich Fleiß?«
»Der erste Text aus den ›Römischen Elegien‹ wird in der Schule und auch sonst in der breiten Öffentlichkeit kaum gelesen, ebenso die Ode an die Bäume. Es ist recht unwahrscheinlich, dass er diese Verse im Schulunterricht oder zuhause kennengelernt hat. Dennoch sind sie natürlich für jedermann frei zugänglich. Zumal es zu Goethes Werken sehr viel Sekundärliteratur gibt und man im Internet fast alles findet. Wenn es um die Charakterisierung des Täter geht, halte ich den Aspekt, dass er ein grundlegendes Interesse für Literatur haben muss, für sehr wichtig. Wahrscheinlich schon seit seiner Jungendzeit. Mehr kann ich im Moment nicht sagen.«
Er bemerkte mein Zögern und sah mich fragend an.
Da er mir gegenüber offen gewesen war, wollte ich ihm ebenfalls nichts vorenthalten, auch wenn Vieles unsicher war. »Na ja«, meinte ich deshalb, »in Anbetracht des von mir vorausgesetzten Alters zwischen 16 bis 30 Jahren ist es recht wahrscheinlich, dass er durch eine literaturerfahrene Person sozusagen … angeleitet wurde.«
Siggi überlegte. »Um wen könnte es sich dabei handeln, Vater, Mutter …?«
»Möglich, aber ehrlich gesagt …«
»Ja?«
»Es sind eben alles nur Vermutungen!«
»Keine Sorge, ich kann das schon einschätzen. Ich brauche deine Vermutungen, um mir selbst ein Bild machen zu können.«
Polizeiliche Ermittlungen waren Neuland für mich, also beschloss ich, ihm zu vertrauen. Er würde schon wissen, was er mit meinen Äußerungen anzufangen hatte. »Ich habe bei meinen Studenten oft die Erfahrung gemacht, dass solch eine lehrende Person eher von außerhalb der Familie kommt, quasi ein neutraler Coach. Manchmal ist es ein Verwandter, manchmal ein Lehrer oder ein guter Freund.«
»Interessant. Und du
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