Goetheruh
festgestellt, dass er sich gut mit PCs, Internet und E-Mails auskennt.«
»Das trifft heutzutage aber auf viele Leute zu.«
»Auch wieder wahr.«
Erneut klingelte das Telefon. Siggi hörte wortlos zu, dann brummte er etwas in den Hörer und legte auf. »Tut mir leid, Hendrik, lass uns später weiter diskutieren, ich muss jetzt zur Staatsanwältin.«
»Wieso?«, wollte ich wissen.
»Ich brauche einen Haftbefehl für Oliver Held!«
*
Er wusste wenig über seine Geburt, außer, dass er im Sophienhaus zur Welt gekommen war. Genau genommen wusste er gar nichts darüber. Es gab keine Fotos aus dem Krankenhaus, seine Mutter behauptete, sich nicht daran erinnern zu können, selbst sein Großvater schwieg sich aus. Immerhin hatte er ihm seinen Zweitnamen zu verdanken. Das war das Einzige, was ihn in Bezug auf seine Geburt mit Stolz erfüllte. Erstens, weil er seinen Großvater achtete und zweitens, weil auch Goethe den Namen seines Großvaters, Johann Wolfgang Textor, erhalten hatte.
Textor war einst der Frankfurter Stadtschultheiß und bekleidete in Goethes Geburtsjahr 1749 bereits seit geraumer Zeit dieses höchste Amt der freien Reichstadt. Als der kleine Johann Wolfgang am 28. August unter dramatischen Umständen das Licht der Welt erblickte, bewirkte er allein dadurch eine Veränderung. Denn bei seiner Geburt, wie damals üblich eine Hausgeburt, war nur eine unkundige Hebamme zur Stelle, durch deren Ungeschicklichkeit – wie Goethe später schrieb – der Junge zunächst für tot gehalten wurde. Erst die resolute Großmutter, die ihrer Schwiegertochter zur Seite stand, konnte Johann Wolfgang durch ein warmes Bad und eine Einreibung mit Wein zum Leben erwecken. Dass der Wein später zu Goethes Lieblingsgetränk wurde, führen nicht wenige auf dieses Ereignis zurück. Angeregt durch diese fast missglückte Geburt seines Enkelkindes und die plastischen Schilderungen seiner Ehefrau, veranlasste Textor daraufhin die Einführung eines geregelten Hebammenunterrichts in Frankfurt – sicher ein löblicher Verdienst.
Er bewunderte Goethe dafür, allein mit seiner Geburt bereits die Welt verändert zu haben. Es wäre das Größte für ihn gewesen, dasselbe auch von sich behaupten zu können, aber dafür war es zu spät. Immerhin hatte er einen Plan – einen großen Plan. Und der musste gelingen.
*
Als ich das Polizeipräsidium verlassen hatte, beschloss ich, mir etwas zu gönnen. Ein schönes Mittagessen, zu Hause in meiner kleinen Küche. Dazu musste ich aber erst einkaufen. Ich parkte im Untergraben und lief durch die Kaufstraße hinüber zum Marktplatz.
Es war Mittwoch. Mir wurde bewusst, dass dies erst mein dritter Tag in Weimar war, obwohl ich das Gefühl hatte, als sei bereits eine ganze Woche vergangen. So viele Dinge waren passiert und so viele neue Eindrücke waren auf mich eingestürzt, dass es mir schwer fiel, alles zu ordnen. Während ich über den Markt schlenderte, schossen mir viele Gedanken durch den Kopf: War Oliver Held wirklich der Täter? Konnte Siggi einen Haftbefehl für ihn erwirken? Wo waren die Beutestücke? Ich konnte mich kaum auf meine Einkäufe konzentrieren. Als ich endlich alles im Auto verstaut hatte, änderte ich kurzerhand meinen Plan und beschloss, bei Thomas in der ›Brasserie Central‹ einen kleinen Imbiss zu nehmen. Kochen konnte ich auch morgen.
Viele meiner Kollegen in der Universität kannten diese spontane Art, mit der ich oft weit im Voraus geplante Termine kurzerhand über den Haufen warf. Sie nannten es Chaos. Ich nannte es kreative Flexibilität.
Also drehte ich die Parkscheibe weiter und marschierte schnurstracks zum Rollplatz. Thomas stand hinter dem Tresen und winkte mir zu. Als ich mich im Café umsah, sprach mich jemand von der Seite an.
»Hallo, Hendrik!«
Ich drehte mich um. Es war Felix Gensing. Neben ihm saßen eine dunkelhaarige Frau und ein junger Mann.
»Setz dich doch zu uns!«
Ich zögerte einen Moment, wusste aber auch nicht, wie ich die Einladung hätte ablehnen können.
»Na, komm nur, ein Platz ist noch frei.«
Felix schien sich tatsächlich richtig zu freuen, mich zu sehen und stellte mir stolz seine Familie vor. »Das ist meine Frau Anna«, erklärte er in gewichtigem Ton.
Anna stand auf und gab mir die Hand. Eine dünne, fast zerbrechliche Hand, die ich kaum zu drücken wagte. Sie lächelte nicht und sagte kein Wort. Sie war sehr hübsch, mit dunklen Rehaugen und einem kühlen Zug um die Mundwinkel.
»Und das ist unser
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