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Goetheruh

Goetheruh

Titel: Goetheruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Koestering
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emotional abschotten. In der Literatur würde er registrieren, dass alle Worte mit dem Bestandteil Selbst stark an Bedeutung gewonnen haben: Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Selbstbewusstsein und so weiter. Er würde aber auch bemerken, dass wir uns heute in einer individual-disphorischen Epoche befinden.«
    »Was heißt das?«
    »Dass wir einerseits individualistischer, extrovertierter und durchsetzungsfähiger geworden sind, zum anderen aber auch ängstlicher, ja sogar depressiver.«
    Sie überlegte: »Weil trotz aller Selbstbestimmung der Sinn des Lebens fehlt?«
    »Genau. Grund ist der Schwund an verbindlichen Werten und objektiven Orientierungen. Aber auch die erzwungene Mobilität, die kaum noch zu beherrschende Informationsflut und die höhere Brüchigkeit von Bindungen trägt dazu bei. Es wird geheiratet, geschieden und wieder geheiratet, auf der Suche nach dem Lebensglück. Und Prominente mit Vorbildfunktion demonstrieren es. Einen Beweis für diese Theorie liefern die Amish-People, die, abgeschottet von der modernen Welt leben wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts und sich eben nicht in diesem individual-disphorischen Status befinden.«
    »Das klingt ja recht negativ.«
    »Nun, für den Menschen, der diese retrospektive Zukunftsreise unternimmt, ist es sicher negativ. Uns sollte es zumindest zum Nachdenken anregen, das ist eine unserer Aufgaben. Und man darf nicht vergessen, dass diese Veränderungen auch viele positive Folgen mit sich bringen.«
    »Da bin ich jetzt aber gespannt!«
    »Beispielsweise hat sich durch den Rückgang der lokalen Sozialbindungen gleichzeitig die internationale, kulturelle Bindung verstärkt. Man interessiert sich weniger für den Dorfklatsch, dafür dank Fernsehen oder Internet sehr viel mehr für fremde Kulturen, informiert sich über Muslime, über afrikanische Literatur, japanisches Essen und das Leben der Eskimos. Ein weiteres Beispiel ist die Emanzipationsbewegung, durch die sich die Durchsetzungsfähigkeit und auch das Wohlbefinden der Frau erheblich verbessert haben – auch wenn da weiterhin Einiges zu wünschen übrig bleibt!«
    Sie sah mich provozierend an. »Aha. Was wünschen sich die Frauen denn noch so alles?«
    Ich grinste. »Das wüsste ich auch gerne!«
    »Das musst du aber bald herausfinden, sonst …«
    »Was sonst?«
    »Sonst … mache ich dir nie wieder Frühstück!«
    Ich sah ihr tief in die blauen Augen.
    Sie lächelte. »Gibt’s etwas Neues im Fall Goethehaus?«, fragte sie schnell.
    Ich musste mich erst wieder sammeln.
    »Wie? Ja …, es gibt sogar große Neuigkeiten!«
    Ich erzählte ihr, dass Oliver Held verdächtigt wurde und Siggi ihn verhaften lassen wollte. Wir diskutierten noch eine Weile darüber, ob Held der Täter sein konnte. Plötzlich fiel mir Cindys Einladung wieder ein. Zum Glück – denn Verabredungen zu verpassen, war meine Spezialität. Ich schenkte Hanna Kaffee nach und berichtete ihr dabei über Cindy und John und von ihrer Einladung. Sie war sofort bereit mitzukommen. Ich freute mich sehr. Wir sprachen nicht darüber, in welcher Rolle sie an meiner Seite auftreten würde. Es war eine unausgesprochene, nicht sichtbare, aber für uns beide fühlbare Rolle.
    »Cindy ist Dozentin für Musikgeschichte an der Franz-Liszt-Hochschule. Sie hatte einen hervorragenden Ruf, und man kann sehr gut mit ihr über die Weimarer Musikszene zur Zeit Goethes diskutieren.
    »Interessant, und was macht John beruflich?«
    »Er ist Patentanwalt und arbeitet für verschiedene amerikanische Firmen. Er kümmert sich um die Patentanmeldungen in Europa. Deswegen muss er oft nach München zum Europäischen Patentamt. John spricht übrigens kein Deutsch, er versteht das meiste, traut sich aber nicht zu sprechen. Ich werde dir alles übersetzen.«
    »Wie alt sind die beiden eigentlich?«
    »John hat ungefähr unser Alter, Cindy müsste etwas jünger sein, Ende 30 vielleicht. Sie wohnen übrigens in der Geleitstraße, direkt neben der Metzgerei Schmidt.«
    »Oh ja, da waren wir oft mit deinem Großvater.«
    »Stimmt, hauptsächlich um Hackfleisch für uns und irgendwelche Innereien für seinen Hund zu holen.«
    »Genau!« Sie lachte.
    »Ihren Hauptwohnsitz haben die beiden übrigens in Dallas, doch den Sommer über ist Cindy immer hier an der Musikhochschule und John versucht während dieser Zeit, seine Aufgaben in Europa zu erledigen. Trotzdem ist er viel unterwegs und die beiden sehen sich eigentlich sehr selten.«
    »Schade«, meinte sie versonnen.
    »Ja, das

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