Goetheruh
finde ich auch«, sagte ich mindestens genauso versonnen.
Zufällig griffen wir beide gleichzeitig nach der Kaffeekanne und unsere Hände berührten sich kurz. Ein angenehmer Schauer lief mir über den Rücken.
»Willst du die Kaffeekanne nicht wieder loslassen?«, fragte sie.
»Oh ja, entschuldige!« Es war mir fast ein bisschen peinlich. Anderseits auch wieder nicht. Aber wer kann in solchen Momenten schon seine eigenen Empfindungen verstehen?
Mein Handy klingelte und riss mich aus den Gedanken. Es war unser Institutsleiter. Ein Kollege war krank geworden und ich sollte dringend dessen Vorlesungen und Seminare in Frankfurt übernehmen.
Hanna schwieg zunächst. Ich sah auf den Kalender.
»Heute ist Donnerstag, am Samstag muss ich zurück nach Frankfurt«, meinte ich lakonisch, »den Sonntag brauche ich noch zur Vorbereitung. Am nächsten Donnerstag komme ich wieder zurück.«
»Na ja«, seufzte Hanna nach einiger Zeit, »es hätte schlimmer kommen können.«
*
Er erkannte selbst, dass er sich wieder einmal zu sehr mit der Vergangenheit beschäftigte. Er hätte wohl besser mehr über seine Zukunft nachgedacht. ›Unsere Zukunft liegt in der Vergangenheit!‹, pflegten viele Politiker in Weimar zu sagen. Er hätte sich ebenso geäußert, wenn ihm nur jemand zugehört hätte.
Schlagartig wurde ihm klar, dass ihn die Hinwendung zu seiner Stadt nicht nur stärkte, sondern auch einschränkte. Seine geliebte Stadt hielt ihn in ihren Grenzen. Und plötzlich beschloss er, seinen Plan zu ändern. Er musste seinen Aktionsradius erweitern, den Ablauf variieren. Und dazu benötigte er die Adresse von Stadtrat Kessler.
*
Um 19.30 Uhr standen Hanna und ich schmuck und adrett vor der Metzgerei. Nicht um einzukaufen, nein, weil wir dies aus sentimentaler Erinnerung als Treffpunkt vereinbart hatten.
Hanna hatte sich umgezogen. Das kleine Schwarze war angesagt, mit einem atemberaubenden Dekolleté, einem silbernen Edelschal und schwarzen Pumps. Ich hatte mich für eine leichte graue Sommerhose, ein weißes kurzärmliges Hemd und eine meiner edelsten Seidenkrawatten entschieden, dunkelblau glänzend. Unabhängig voneinander hatten wir uns für die gleiche Garderobe entschieden. Wieder einmal waren wir uns einig, ohne vorherige Absprache, ganz im Stillen.
Meine Freude darüber ließ allerdings schnell nach, als wir Cindy und John begrüßten. Die beiden kamen uns lässig in Jeans, T-Shirt und Holzfällerhemd entgegen. Zunächst waren Hanna und ich völlig perplex, vor Schreck vergaß ich sogar die Begrüßung, und Hanna brachte nur ein stammelndes »Hallo, ich bin Hanna!« hervor. Cindy und John waren wahrscheinlich ebenso peinlich berührt und blickten sich unsicher an. Schließlich meinte Cindy: »Dann kommt ihr doch bitte mal rein.«
Als wir dann so verkrampft im Flur standen und keiner richtig weiterwusste, fing John plötzlich herzhaft an zu lachen. »Seems we are behaving like college boys and girls!«
Das traf den Nagel auf den Kopf, wir benahmen uns tatsächlich wie Schüler vor der ersten Tanzstunde. Cindy prustete los und Hanna und ich stimmten ein. Zwischen all dem Lachen nahm ich Hanna den silbernen Edelschal ab und legte ihn Cindy übers T-Shirt. Dann zog ich meine Seidenkrawatte aus und band sie John um sein Holzfällerhemd.
Es gab hervorragende hausgemachte Pizza und einen trockenen südfranzösischen Rosé – der war zum Niederknien gut. Die Pizza konnten wir selbst belegen und alles stand in der engen Küche bereit. Wir hatten viel Spaß und kamen uns nah. Besonders Hanna und ich.
»Wie lang kennt ihr euch schon?«, fragte Cindy.
»So ungefähr 25 Jahre«, erwiderte Hanna.
»Oh, eine … wie sagt man – Jugendliebe?«
Hanna und ich sahen uns an. Das gleichnamige Lied von Ute Freudenberg kam mir in den Sinn. War es eine Jugendliebe?
»John und ich kennen uns seit fünf Jahren, nur.«
»Oh yes, only five years!«, bekräftigte John. »We both are divorced and married a second time.«.
Hanna sah mich hilflos an.
»Sie sind beide bereits einmal geschieden und zum zweiten Mal wieder verheiratet«, übersetzte ich ihr.
»Oh«, entfuhr es Hanna.
»Und das war die beste Entscheidung, die wir gemacht haben!« Cindy lächelte zu John hinüber.
»Welche Musik hört ihr denn am liebsten?«, fragte Hanna in Richtung Cindy, mit der sie aufgrund ihrer lückenhaften Englischkenntnisse leichter reden konnte. Wie ich ihr eingeschärft hatte, duzte sie Cindy und John von Anfang an, wie es in
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