Goetheruh
behaupten, er sei ein gut aussehender Mann gewesen mit seiner langen Nase und den etwas hervorstehenden Augen. Zeitgenössische Stimmen dagegen beschreiben ihn durchaus als attraktiv, der Geschmack ist ja auch einem Wandel unterworfen. Jedenfalls hatte er stramme Waden, was damals bei der Damenwelt offensichtlich großen Anklang fand. Rauch und Ritschel, die beiden Künstler, die das Goethe-Schiller-Denkmal vor dem Weimarer Nationaltheater erschufen, verliehen ihm zumindest deutlich ausgeprägtere Waden als Schiller. Und von Wieland wird berichtet, dass er Goethe in puncto Waden deutlich unterlegen war.«
»Alles nur Äußerlichkeiten«, schnaubte Benno verächtlich, und Sophie lächelte ihn mild-süß an.
Ich musste lachen. »Unterm Strich gab es meiner Ansicht nach fünf Frauen, die einen Einfluss auf seinen Schaffensprozess ausüben konnten, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise: Charlotte von Stein, seine Ehefrau Christiane, Herzogin Anna Amalia, Marianne von Willemer und Susanna von Klettenberg.«
»Susanna von … was bitte?«
»Susanna von Klettenberg aus Frankfurt. Sie ist nicht sehr bekannt, gab ihm aber einen wichtigen Teil seiner philosophischen Grundlagen. Sie brachte ihm die Lehren von Spener und Spinoza nah, im Sinne eines praktischen, naturnahen Christentums.«
»War das die Auffassung, dass Gott in allen Elementen der Natur wiederzufinden ist?«
»Genau!«
»Und Anna Amalia?«
»Tja, Anna Amalia schuf die ökonomischen und praktischen Rahmenbedingungen für Goethes literarische Aktivitäten, sie hielt ihm den Rücken frei und förderte damit natürlich in hohem Maße seine unabhängige Kreativität. Charlotte von Stein hingegen war seine ständige Kritikerin, seine hohe Instanz, die zum Teil sogar Entscheidungen über Veröffentlichungen mitbestimmte. Christiane war seine Muse, seine natürliche Inspiration.«
»Und Marianne von Willemer, was war an ihr so Besonderes? Die habe ich bisher immer als unbedeutend angesehen.«
»Ganz im Gegenteil. Marianne von Willemer hatte ein intensives Liebesverhältnis zu Goethe, wenn auch zumeist als Fernbeziehung. Sie lebte in dieser Zeit – ab ungefähr 1810 – mit ihrem Ehemann in der Gerbermühle in Frankfurt, Goethe war zu dieser Zeit längst in Weimar ansässig. Marianne war die einzige seiner Liebschaften, die ihm literarisch ebenbürtig war und in eine dichterische Wechselbeziehung mit ihm eintrat.«
»War sie es nicht auch, die einen Teil des Westöstlichen Diwan verfasst hat?« Hanna entpuppte sich als wahre Goethe-Kennerin.Ich war begeistert. »Genau. Sie war die Suleika und somit der Inbegriff für die Angebetete, die Begehrenswerte. Sie nimmt also im Leben Goethes eine ganz besondere Stellung ein und ist – aus meiner Sicht zumindest – die fünfte der wichtigen Frauengestalten.«
»Womit sich wieder zeigt«, meinte Sophie gelassen, »dass hinter jedem starken Mann fünf starke Frauen stehen!«
»Schön wär’s«, schwärmte Benno versonnen, kurz bevor ihn ein fliegender Hausschuh traf. Er flüchtete lachend in die Küche.
»Und so etwas ist auch Teil deiner Arbeit an der Uni?«, fragte Hanna.
»Mitunter.«
»Schöne Arbeit!«
Ich nahm mir vor, öfter an diesen Aspekt zu denken, wenn ich mit einem der langweiligen Anträge für den Uni-Betrieb beschäftigt sein würde.
Es war wunderbar neben Hanna zu sitzen. Ganz unvermittelt und ohne, dass ich es selbst wirklich gemerkt hatte, hatte ich den Arm zuerst auf die Sofalehne und dann auf ihre Schulter gelegt. Sie nahm es wie selbstverständlich hin, vielleicht genoss sie es sogar.
»Schön, dass du heute nicht so lange arbeiten musstest«, sagte ich an Sophie gerichtet, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.
»Ja, das war eine große Ausnahme. Besonders im Sommer. Am schlimmsten ist es, wenn ich Dienst in der Ambulanz habe, und es kommen laufend Patienten mit Verletzungen, zum Beispiel am Samstagabend, wenn alle grillen und im Freien rumturnen. Und dann muss man sich garantiert noch um ein oder zwei Simulanten kümmern.«
»Wie meinst du das?«, wollte Hanna wissen, »da kommen doch wohl nicht etwa irgendwelche Hypochonder am Wochenende in die Ambulanz?«
»Doch, natürlich!«, erwiderte Sophie. »Gerade neulich, bei meinem letzten Wochenenddienst, kam ein junger Mann, der behauptete, vom Baum gefallen zu sein. Obwohl sein Kopf völlig in Ordnung war, bestand er vehement darauf, dass wir eine Röntgenaufnahme machen sollten. Ich merkte, dass er ziemlich starrsinnig
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