Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goetheruh

Goetheruh

Titel: Goetheruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Koestering
Vom Netzwerk:
Kollegen von der Universität auch gelang. Dem Kollegen eine plausible Erklärung zu liefern, warum ich mich ausgerechnet mit diesem Stück befassen wollte, war naturgemäß etwas schwierig.
    Warum hat Goethe so etwas überhaupt geschrieben?
    Ich öffnete den Küchenschrank, nahm die Kaffeedose heraus und füllte die süditalienischen Mischung - 80% Arabica, 20% Robusta - in die Mühle.
    Der Autor eines Artikels, der sich mit ›Hanswursts Hochzeit oder Der Lauf der Welt‹ beschäftigte, interpretierte Goethes pubertärsexuelle Sprachweise als Gesellschaftskritik, als Aufbäumen gegen die steifen Hofsitten und die damals übliche Doppelmoral. Irgendwie gefiel mir dieser Ansatz nicht, zu theoretisch, zu weit weg von den Menschen der damaligen Zeit.
    Ich hielt den Siebträger unter die Kaffeemühle und drückte den Knopf. Die Mühle summte gleichmäßig, ein würziger Kaffeegeruch stieg mir in die Nase.
    Auch ein Genie wie Goethe konnte doch mal einen Aussetzer gehabt haben. Mal voll danebenliegen? Einfach … Mist schreiben?
    Ich nahm den Tamper und drückte das Kaffeemehl mit sanftem Druck zusammen, strich ab und drehte den Brühkopf ein.
    Die damaligen Menschen … Da gab es doch ein Zitat: ›Den Menschen Mensch sein lassen!‹ Es stammte von Goethes Mutter. Sie war durchaus lebenslustig, weltoffen und hatte manches Mal einen derben Spruch auf den Lippen. Goethes Mutter … Sollte die Frau Aja, wie sie landläufig genannt wurde, tatsächlich einen solchen Einfluss auf ihn gehabt haben?
    Ich nahm die dickwandige, braune Espressotasse von der Vorwärmplatte. Untertasse, Löffel, Zucker.
    Goethe beschrieb seine Mutter als derb und tüchtig, als Frohnatur, die das Leben genießen konnte. Sie hinterließ selbst einige kleine Geschichten, Anekdoten und Märchen. Sie nahm dabei kein Blatt vor den Mund, obwohl sie als Tochter des Stadtschultheißen und als die Rätin eine hohe soziale Stellung innehatte. Sie nannte Goethes Frau, Christiane, seinen ›Bettschatz‹, die Plastiken ihres Mannes waren ›Nacktärsche‹ und die feinen gutbürgerlichen Zuschauer im Theater beschrieb sie als ›Fratzen‹ und ›Affengesichter‹. Als während des Siebenjährigen Krieges viele Menschen die Stadt Frankfurt verließen, wollte sie auf jeden Fall bleiben und meinte, sie wolle nur, dass alle feigen Memmen gingen, so steckten sie die anderen nicht an. Sie war eine humorvolle Frau, quasi bis in den Tod. Kurz vor ihrem Ableben schrieb sie eine Anleitung für ihren eigenen Leichenschmaus, in der zu lesen war: ›Sagen Sie, die Rätin kann nicht kommen, sie muss alleweil sterben.‹ Ja, so war sie, die Frau Aja.
    Ich legte den Schalter um. Brummend baute sich der Druck auf, bis der Kompressor schließlich seine volle Kraft erreicht hatte.
    Es gab wenige Menschen, die wirklich Einfluss auf Goethe hatten. Gestern Abend hatte ich Sophie und Hanna noch von dem literarischen Einfluss seiner Liebschaften berichtet. Was die präliterarische Lebensphase des jungen Goethe betrifft, waren seine Mutter und seine Schwester sicher die wichtigsten Personen. Sie prägten ihn, weil er beide schätzte – vielleicht liebte. Und weil beide ein wichtiger Teil seiner Jugend waren, einer Zeit, in der er längst nicht gefestigt war, keine klare Weltanschauung hatte, keine Klettenberg’sche Beeinflussung, keine Lebens- und Liebeserfahrung. In seiner Schwester hatte er einen frühen literarisch-philosophischen Sparringspartner, in seiner Mutter eher einen Diskussionspartner für praktische Lebensfragen.
    Der Kaffee lief als schmaler Strahl langsam und gleichmäßig in die Tasse und bildete eine schöne hellbraune Crema. Brühkopf entnehmen, ausklopfen und säubern.
    Und hinten drein kommen wir bey Nacht … Hatte dieser Vers eine Bedeutung, oder wollte er uns damit wieder nur verspotten, vielleicht auch provozieren? Und hinten drein … ? Gelangte der Täter von hinten ins Gebäude?
    Zwei Löffel Zucker, umrühren. Ich setzte mich in den Sessel am Dachfenster. Heiß und kräftig rann der Espresso meine Kehle hinab. Das gab Kraft.
    Ich starrte auf die leere Espressotasse in meiner Hand. Intuitiv entschloss ich mich, meine Überlegungen vorerst nicht fortzusetzen, sondern erst mit dem Psychologen zu sprechen. Vielleicht hatte er einige Ideen, die mit einfließen konnten.
    Siggis Meinung kam mir in den Sinn: Die Kooperation zwischen dem Psychologen und mir sei ein wichtiger Punkt für das gesamte Team – möglicherweise hatte er recht, der glatzköpfige

Weitere Kostenlose Bücher