Goetheruh
Sheriff.
Etwas ziellos rannte ich anschließend in der Wohnung umher, räumte auf, wusch das Geschirr ab. Danach musste ich einfach Hanna anrufen. Sie war gerade im Auto unterwegs. Ich erklärte ihr, dass das Wetter in Weimar gut sei, sonnig und 29 Grad. Sie lachte und meinte, in Nordhausen sei das Wetter ebenso. Ich weiß, das klang nicht gerade überzeugend, es wäre wohl besser gewesen, wenn ich zugegeben hätte, dass ich einfach ihre Stimme hören wollte. So wie ich diese Frau einschätzte, war ihr das aber sowieso klar.
Gegen Mittag machte ich mich zu Fuß auf den Weg zum Frauenplan. Der Psychologe wartete bereits vor dem ›Weißen Schwan‹. Er trug wie immer einen Rollkragenpullover, obwohl es fast 30 Grad im Schatten waren. Seine dünnen blonden Haare wehten im Wind.
Zur Begrüßung gab ich ihm die Hand: »Wir kennen uns ja schon.«
»Nun ja«, meinte er, » kennen ist vielleicht etwas übertrieben.«
Er lächelte dabei. Und ich musste ihm beipflichten.
»Aber was nicht ist, kann ja noch werden«, fügte er hinzu.
Wir hatten das Kaminzimmer für uns allein und konnten uns so ungestört über den Fall unterhalten.
»Ein offenes Wort ist mir immer am liebsten«, begann ich, nachdem wir bestellt hatten.
Er bedeutete mit einer Handbewegung, dass ich fortfahren solle.
»Bisher haben Sie kaum etwas zu diesem Fall gesagt.« Ich sah ihn fragend an.
»Ich habe gelernt, mich zurückzunehmen«, entgegnete er.
»Vielleicht etwas zu viel Zurückhaltung?«
»Möglich.«
Ich war der Meinung, dass es momentan keinen Sinn machte, noch persönlicher zu werden, und ließ es dabei bewenden.
»Na gut, Herr Wilmut, ich kann Ihnen gerne meine Sicht des Falls mal darstellen.«
»Bitte, ich bin sehr neugierig.«
Der Psychologe lehnte sich entspannt zurück. »Für mich sieht es nicht so aus, als habe der Täter ein finanzielles Motiv.«
»Auch wenn das noch nicht ganz sicher ist.«
»Natürlich, das zu klären ist aber Herrn Dorsts Aufgabe. Bis auf Weiteres sehe ich ihn als einen Serientäter. Offensichtlich ist er von dem Trieb befallen, Kunstgegenstände und Werke von Goethe zu besitzen. Werke, die in sehr persönlichem Zusammenhang mit dem Dichter stehen und zwar nur Originale, wie Sie ja selbst festgestellt haben. Er kennt sich sehr gut mit Goethe und seinem Leben aus, das benötigt viel Zeit. Und solch einen Aufwand betreibt ein normaler Mensch nicht im Geheimen, nicht ohne offensichtlichen Grund und nicht ohne dieses Wissen irgendwie … zur Schau zu stellen.«
Ich strich mir übers Kinn. »Klingt plausibel, nehmen wir also an, Sie liegen richtig mit dieser These. Sie sagen, er ist von einem ›Trieb befallen‹ … ich verstehe zwar nicht viel von Psychologie, aber das klingt irgendwie nach … Geisteskrankheit?«
Er setzte eine ernste Miene auf. »Natürlich kann man das nicht definitiv sagen, ohne den Patienten gesprochen und verschiedene Tests gemacht zu haben, aber wenn Sie mich so fragen, neige ich doch sehr zu der Einschätzung, dass wir es mit einem psychisch kranken Täter zu tun haben.«
Über diese recht klare Aussage war ich sehr erstaunt, zumal der Psychologe mir bisher keine Gelegenheit gegeben hatte, seine Glaubwürdigkeit einzuschätzen. Im Sinne der von Siggi angemahnten Kooperation beschloss ich, seine Aussage nicht anzuzweifeln, sondern gewissermaßen einen diplomatischen Umweg zu nehmen.
»Sie haben den Begriff ›psychisch krank‹ so betont – spricht man nicht mehr von Geisteskrankheiten?«, fragte ich.
»Nein, dieser Ausdruck wird heute nicht mehr gebraucht, um die Tabuisierung dieser Krankheiten zu verhindern. Man spricht von psychischen Erkrankungen, die in verschieden Kategorien unterteilt werden.«
»Aha. Angenommen der Täter ist tatsächlich psychisch krank«, dachte ich laut nach, »dann würde das die Analyse seiner Texte natürlich beeinflussen.«
Er machte eine zustimmende Handbewegung.
»Insofern bräuchte ich etwas mehr Informationen darüber. Können Sie mir vielleicht einen kurzen Überblick geben?«
»Über die psychischen Erkrankungen?«
Ich nickte. »Gerne, wenn Sie etwas Zeit haben!«
»Die nehme ich mir.«
Der Psychologe lächelte. Er strich seine blonden Haare zurück. »Es gibt verschiedene Klassifizierungen der psychischen Erkrankungen. Am Besten zieht man die sogenannte ›International Classification of Diseases‹ zu Rate, abgekürzt ICD, die im gesamten Gesundheitswesen genutzt wird und auch alle anderen Krankheiten enthält. Im Kapitel F
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