Goetheruh
konnte kein lückenloses Alibi vorweisen. In seiner Wohnung hatten die Hunde kleine Mengen Heroin entdeckt, was immerhin für eine erneute Inhaftierung reichte. Ob dies etwas mit unserem Fall zu tun hatte, blieb unklar. Insgesamt hatte die Durchsuchung zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt, das schien Onkel Leo sehr zu bedrücken.
»Es gibt außerdem etwas Neues von dem verschwundenen Bild ›Goethes Gartenhaus von der Rückseite‹.«
»Aha.« Ich sah ihn gespannt an.
»Das Bild ist bei einer Kunstauktion in London aufgetaucht!«
Endlich ein Hinweis. »Und?«
»Martin Wenzel fliegt morgen hin und prüft, ob es sich dabei tatsächlich um das verschwundene Exponat handelt.«
»Oh, das ging aber schnell!«
»Gärtner sei Dank. Dein Argument mit der Verantwortung gegenüber der UNESCO-Kommission hat ihn ziemlich beeindruckt.«
»Hoffentlich war ich da nicht zu … energisch?«
»Selbstzweifel?«
»Na ja, irgendwie schon.«
»Die sind ja manchmal angebracht, aber nicht jetzt!« Benno winkte ab. »Außerdem steht er politisch unter Druck, 1999 ist nicht nur europäisches Kulturjahr, sondern auch das Jahr der Kommunalwahl. Insofern muss er alles daran setzen, den Fall zu lösen. Und das Goethe-Bild könnte ein erster Schritt dazu sein.« Er wirkte nachdenklich. »Wie viele Originalzeichnungen oder Gemälde existieren eigentlich von Goethe?«
»Eine ganze Menge, fast 2.000 Stück. Da sind aber viele schnell angefertigte Handzeichnungen dabei, aus der Zeit, als er meinte, ein großes Zeichentalent zu haben. Warum ›Goethes Gartenhaus von der Rückseite‹ eine Sonderstellung einnimmt, weiß ich nicht. Wenzel kann das sicher beantworten. Im Übrigen denke ich, dass eine Federzeichnung mit Wasserfarbe nicht ganz so schwer zu kopieren ist wie zum Beispiel ein Ölgemälde. Deswegen glaube ich nicht, dass das Bild in London wirklich das Original ist.«
»Wir werden sehen. Leben und Werk von Goethe erscheinen mir inzwischen ziemlich kompliziert!«
»Wieso?«
»Du siehst das natürlich anders, du kennst dich ja aus. Aber auf mich wirkt das alles sehr undurchsichtig und vielschichtig.« Er ging in die Küche, kam mit zwei neuen Flaschen Ehringsdorfer zurück und drückte mir eine davon in die Hand.
»Danke. Musst du dich denn so intensiv mit Goethe auseinandersetzen? Dafür hast du doch Wenzel und mich.«
»Klar, aber einen gewissen Überblick brauche ich auch, um zu verstehen, was den Täter bewegt, oder?«
»Da ist was dran. Das Schwierige ist, dass Goethe immerhin 82 Jahre alt geworden ist. Das ist selbst für heutige Verhältnisse recht beachtlich. In dieser Zeit hat er eine Menge erlebt und dank seiner Kreativität bis ins hohe Alter auch enorm viel geschaffen. Und er war bereits mit 22 Jahren äußerst erfolgreich, wurde durch ›Götz von Berlichingen‹ bekannt. Das heißt, seine effektive Schaffensperiode dauerte immerhin 60 Jahre, also mehr als ein halbes Jahrhundert.«
»60 Jahre?«
»Ja. Beeindruckend, nicht? Auch die Einflüsse auf Goethe durch die Weltgeschehnisse sind enorm. Zu Goethes Geburtszeit war Frankfurt geprägt durch die Zünfte und die Vorherrschaft der Patrizier. Sogar das öffentliche Blutgericht wurde dazumal praktiziert. Er erlebte den Siebenjährigen Krieg, die Französische Revolution, Napoleons Weltherrschaft und deren Ende.«
Benno wirkte beeindruckt. »Das muss man erst einmal alles aufnehmen und verarbeiten.«
»Genau. Und ohne seine Offenheit und Aufnahmebereitschaft hätte Goethe nicht dazu beitragen können, die deutsche Literatur zu Weltruhm zu führen.«
»War er nicht auch naturwissenschaftlich tätig?«
»Das stimmt. Die Wissenschaft entwickelte sich von einer allumfassenden Disziplin zu spezifizierten Einzeldisziplinen wie Physik, Biologie, Theologie, Philosophie und so weiter. Ich glaube, Goethe selbst war der letzte Repräsentant des Universalgelehrten, des Uomo Universale.«
Benno prostete mir zu. »Was hältst du als Experte eigentlich für sein bedeutendstes Werk?«
»Oh, das ist schwer zu beantworten – Götz hat ihn bekannt, Werther sogar berühmt gemacht und Faust wird am häufigsten zitiert und gelesen. Ich persönlich finde seine Lyrik am eindruckvollsten. Nicht die Balladen, sondern die kurzen, prägnanten Gedichte, die in wenigen Strophen eine zwischen den Zeilen liegende Aussage machen.«
Benno sah mich verwirrt an.
»Ich will damit sagen, dass in vielen seiner Gedichte eine Aussage steckt, die zwar nicht expressis verbis zu lesen ist, aber
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