Goetheruh
traumatische Erfahrungen verursacht, die häufig in der Kindheit zu suchen sind. Dies wäre ein weiterer Ansatzpunkt bei der Suche nach dem Täter.«
Ich notierte mir die wichtigsten Punkte und begann, diese gedanklich mit meiner Textanalyse abzugleichen.
»Zur zweiten Kategorie der Persönlichkeitsstörungen«, fuhr der Psychologe fort, »gehören unter anderen die emotional instabile Persönlichkeit und die Borderline-Störung.« Er muss wohl meinen fragenden Blick bemerkt haben.
»Borderline-Persönlichkeitsstörungen werden so genannt, weil sich diese Patienten an einer Grenzlinie zwischen Neurose und Psychose befinden. Diese Patienten haben also sowohl ein paradoxes zwischenmenschliches Verhalten, als auch ein gestörtes Verhältnis zu sich selbst, bis hin zu Selbstverletzungen und Suizidgefahr. Als häufigste Ursache gilt eine wiederholte traumatische Erfahrung, oft mit engen Bezugspersonen, und dadurch erlittene körperliche oder psychische Gewalt, zum Beispiel durch Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch.
Ich war unschlüssig.
»Gibt es ein Problem?«, fragte er vorsichtig.
»Ehrlich gesagt, ich bin unsicher, ob mir das weiterhilft.«
»Tja, das ist auch schwierig. Zumal einige Krankheitsformen durchaus in andere Formen übergehen können. Für Ihre Textanalyse kann ich Ihnen keinen Tipp geben. Ansonsten würde ich Ihnen raten, bevor Sie zu tief einsteigen, lieber auf die allgemeinen Anzeichen einer psychischen Störung zu achten. Taucht im Laufe der Ermittlungen eine Person auf, die solche Zeichen erkennen lässt, sollten wir uns gemeinsam damit befassen.«
Das hörte sich vernünftig an und zeigte mir gleichzeitig seine Bereitschaft zur Kooperation.
»Gut. Um welche Anzeichen handelt es sich dabei?«
»In erster Linie um Störungen der Ansprechbarkeit, der zeitlichen oder räumlichen Orientierung, des Erinnerungsvermögens und der Wahrnehmungsfähigkeit.«
Ich schluckte. »Tut mir leid, aber das kann ich mir nicht alles aufschreiben.«
»Kein Problem, ich fasse Ihnen alles in einer Mail zusammen«, entgegnete der Psychologe.
»Danke.« Ich war angenehm überrascht von seiner unkomplizierten Art. Damit hatte ich nicht gerechnet. Zumal ich zugeben musste, dass ich mir Psychologen immer etwas umständlich und kompliziert vorgestellt hatte.
Wir hingen einige Minuten unseren Gedanken nach, ohne zu reden. Mir ging die Diskussion in Onkel Leos Garten durch den Kopf. Mein zuvor konstruiertes fiktives Theaterstück mit dem potenziellen Täter Oliver Held in der Hauptrolle passte durchaus in das skizzierte Schema des Psychologen. Nur die Regieanweisungen kannten wir nicht. Und auch nicht den Regisseur. Plötzlich fiel mir die Skizze mit der Flasche und der Spritze wieder ein, die ich auf Tante Gezas frisch gewachstem Terrassentisch gezeichnet hatte. Auch Bernstedts Hinweise auf eine mögliche Alkoholabhängigkeit von Oliver Held kamen mir wieder in den Sinn. Sollte es sich doch um den Missbrauch einer psychotropen Substanz handeln?
»Haben Sie noch Fragen?«, unterbrach der Psychologe meine Gedanken.
Ich musterte ihn aufmerksam. »Sie kennen sich doch mit Serientätern aus.«
»Woher wissen Sie das?«
»Von Siggi.«
»Ach?« Das Erstaunen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er konnte sich wohl nicht erklären, warum Siggi und ich über ihn gesprochen hatten.
»Haben Sie eine Idee, was unser Mann als Nächstes tun wird?«
»Nun, ich denke, man kann ihn nicht so einfach mit einem Serientäter im klassischen Sinne vergleichen, schließlich ist er nicht gewalttätig und richtet die Ausübung seines Zwangs nicht gegen andere Menschen. Er stiehlt nur Gegenstände.«
» Nur ?«
»Ja – nur . Bei aller Tragweite sollten wir auf dem Teppich bleiben. Würde er Menschen verletzen, entführen oder umbringen, wäre das eine andere Kategorie. Dennoch, wenn ich da einen Vergleich ziehen soll, basierend auf Ihren Erkenntnissen, vermute ich stark, dass er in Kürze wieder zuschlagen wird. Der Drang, erneut etwas zu stehlen, wird immer stärker und in immer kürzeren Zeitabständen muss er sich quasi … Erleichterung verschaffen. Es kann natürlich auch sein, dass ein Serientäter eine Pause einlegt. Ich hatte mal den Fall eines Serienmörders, der eine zweijährige Pause eingelegt hat.«
»Der Würger von Apolda?«
»Äh, ja!« Er war aufs Neue verblüfft. »Woher wissen Sie das?«
»Na ja, das … das stand doch damals in allen Zeitungen«, stammelte ich.
Er fixierte mich, als wollte er sagen, dass
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