Goetheruh
Kindheitserlebnisse werden in solchen Fällen in den unbewussten Bereich verdrängt und steuern dann, ohne in den Wahrnehmungsbereich vorzudringen, den Zwang und somit auch den betreffenden Menschen. Man kann das erkennen an einer Störung der Ansprechbarkeit, der zeitlichen oder örtlichen Orientierung, des Erinnerungsvermögens, des Handlungsvermögens oder der Wahrnehmungsfähigkeit. In schweren Fällen zeigen solche Patienten eine psychomotorische Verlangsamung verbunden mit mimischer Starre. Da dies äußerlich erkennbare Symptome sind, sollte bei der Suche nach dem Täter besonders auf derartige Personen geachtet werden. Wird eine solche Person identifiziert, muss geklärt werden, ob sie in der Kindheit schweren Belastungsstörungen unterworfen war oder irgendwelche Zwangshandlungen bekannt sind. Vielen Dank!«
Einen Moment herrschte Stille. Ich hatte das Gefühl, dass alle beeindruckt waren. Benno schien sehr zufrieden.
Einzig Göschke schien wie immer unzufrieden: »Sagen Sie mal, der größte Teil Ihres Berichts beschäftigt sich ja mit diesen … psychischen Erkrankungen. Woher wollen Sie wissen, dass der Täter unter einer solchen Störung leidet, wenn Sie den Mann gar nicht kennen?«
Der Psychologe ließ sich keinen Moment aus der Ruhe bringen. »Erstens ist das nur eines von zwei Modellen …«
»Dem Sie aber eine hohe Priorität einräumen«, knurrte Göschke dazwischen.
»Das stimmt. Aber nur, weil ich als Psychologe an dem anderen Modell nicht viel mitarbeiten kann, das wäre eher Ihre Aufgabe.«
Göschke sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
»Außerdem«, fuhr der Psychologe ungerührt fort, »habe ich ja bereits erwähnt, dass dies lediglich eine These ist. Für die praktische Arbeit an dem Fall ist es aber besser, eine These zu haben, als gar nichts, oder?«
Göschke brummelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin. Siggi und ich nickten. Wenzel sagte nichts.
»Gut«, ging Benno dazwischen, »vielen Dank. Mir ist übrigens aufgefallen, dass Sie sowohl von Tätern als auch von Patienten sprechen. Kann man da eine Trennlinie ziehen?«
»Nein«, erklärte der Psychologe, »da gibt es keine eindeutige Trennung. Da der Mann etwas Gesetzwidriges getan hat, ist er natürlich als Täter zu bezeichnen, insbesondere aus Sicht der Polizei. Aber für den Psychologen und den Psychiater bleibt er dennoch ein Patient. Ich denke, da hat jeder seine eigene Form von … Wahrheit.«
Es gibt Tage, da möchte ich überhaupt nicht reden, erst recht nicht mit mehreren Menschen. Doch es gibt auch Tage, da liegen mir Worte auf der Zunge, die einfach herausmüssen, weil ich befürchte, dass sonst ein schwarzes Loch entsteht. »Eins noch …«
»Ja, bitte?«, fragte der Psychologe höflich in meine Richtung.
»Sie sagen, die Abstände der Taten werden immer kürzer. Wann rechnen Sie mit dem nächsten Diebstahl?«
Ein breites Gemurmel erfüllte den Raum. Benno hob die Hand. Es wurde still.
Der Psychologe lehnte sich zurück. »Der Täter wird in der Nacht von Samstag auf Sonntag wieder zuschlagen.«
Meine Verabredung mit Hanna auf ein Bier fiel aus. Auch Peter Gärtners Parteisitzung fiel aus, genauso wie Kommissar Hermanns Kegelabend. Stattdessen kam der Pizzadienst und brachte fettige Salamipizza und Rotwein in einer Literflasche. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Aussage des Psychologen so unwidersprochen akzeptiert würde. Erneut hatte ich das Vertrauen, das ihm innerhalb des Polizeipräsidiums entgegengebracht wurde, unterschätzt. Nachdem wir alle unsere Frau, Freundin oder Mutter angerufen und unseren leeren Magen mit italienischer Feinkost gefüllt hatten, ging es weiter.
Ich versicherte, dass ich mit dem Psychologen völlig einig war in Bezug auf die Vorhersage. Er hatte mir die Berechnung während des Essens genau erläutert. Selbst wäre ich nie darauf gekommen. Psychologen verstehen doch wesentlich mehr von Mathematik als Literaturwissenschaftler. Er erläuterte den anderen die Kalkulation anhand einer Extrapolationsrechnung und erntete auch hier keinen Widerspruch. Viel mehr entzündete sich die Diskussion daran, wie der Täter wohl in das Gebäude gelangen würde und wie wir ihn dabei fassen könnten. Zunächst hatte niemand einen brauchbaren Einfall und wir verbrachten zehn Minuten mit sinnlosem Philosophieren über parapsychologische Phänomene, Beamen nach Star-Trek-Methode und ähnliche Märchenerzählungen. Dann kamen aber doch noch einige realistische Ideen zusammen,
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