Goetheruh
etwas zu sagen. Der OB hatte inzwischen mit Hans Blume gesprochen. Als dieser erkannte, dass er verdächtigt wurde, rastete er förmlich aus. Er schrie Peter Gärtner an, wollte ihn verklagen, ihn vor den Kadi zerren und ähnliche Dinge. Gärtner war offensichtlich – so berichtete Benno – vollkommen ruhig geblieben und drohte ihm mit einem Disziplinarverfahren, falls er irgendetwas von der Angelegenheit an Personen außerhalb der Expertenkommission weitergeben sollte. Blume meinte, das sei ihm scheißegal und er solle sich zum Teufel scheren. Mephisto lässt grüßen. Ich erklärte Benno, dass ich im Gespräch sei und ihn später zurückrufen würde.
Ich ging wieder zurück in die Küche. Während ich in mein drittes Schinkenbrötchen biss, überfiel mich ein unbändiger Wunsch nach Espresso. Aber leider war weit und breit keine Maschine zu entdecken.
»Experiment ist wohl ein passendes Wort«, nahm Frau Büchler den Gesprächsfaden wieder auf, »aber ich glaube, das Thema ist zu wichtig und zu umfangreich, um es eben mal so nebenbei beim Frühstück zu behandeln.«
»Ja, Mama!« Mehr sagte Hanna nicht. Ihr Tonfall beinhaltete jedoch mehr: eine kleine Portion ›Nicht jetzt‹ und einen Hauch von ›Das ist mein Gespräch‹. Wahrscheinlich musste sie jeden Tag politische Diskussionen mit ihrer Mutter führen. Und mir war es auch sehr recht, weil ich nach der kurzen Nacht nicht vollends aufnahmefähig war. Und natürlich weil ich wegen Hanna gekommen war.
Frau Büchler öffnete einen Joghurt und versuchte den verbalen Bogen zum Alltäglichen zu schlagen. »Na, Hendrik, bist du eigentlich immer noch so ein Goethe-Verehrer?«
»Wie, ähm … was meinen Sie denn mit ›immer noch‹?«, stammelte ich.
Sie lachte. »Sag bloß, du weißt nicht mehr, wie du dir ständig Goethe-Bücher bei uns ausgeliehen und dann die halben Ferien damit verbracht hast.«
Ich war sprachlos.
»Und mein Mann«, Hannas Mutter sah gedankenverloren in den Garten hinaus, »der kannte sich gut aus, hat dir oft ein Buch ausgesucht, meistens ein paar Worte dazu gesagt und du warst völlig begeistert, hast die Bücher förmlich verschlungen!«
»Ich … ich muss sagen, daran kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern!«
Frau Büchler blickte mich an. »An was kannst du dich denn erinnern?«
»An Hanna!«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.
Die beiden lächelten. Hanna strich mir kurz über den Arm.
Ich war ziemlich verwirrt. »Ich dachte immer, mein Interesse für Goethe und die deutschen Klassiker sei einfach so … gekommen, mehr zufällig, meine ich.«
»Nein«, sagte Frau Büchler freundlich, »das war kein Zufall. Du bist oft gekommen, um ein neues Buch auszusuchen. Vielleicht hast du die Bücher auch nur als Vorwand benutzt, um Hanna zu sehen. Doch geblieben ist deine Vorliebe für beides!«
»Es stimmt, Hendrik«, sagte Hanna vorsichtig, »aber derjenige, der an deinem Interesse für Goethe und Weimar einen großen Anteil hat, kann dir leider nichts mehr dazu sagen.«
Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. »Muss mal auf die Toilette«, presste ich hervor und ging hinaus.
Es war ein wunderschöner Morgen. Ich saß lange mit Hanna im Garten, während ihre Mutter nach dem täglichen Gang auf den Friedhof die Einkäufe übernahm. Nach ungefähr zwei Stunden machte ich mich schließlich auf den Heimweg. Ich umarmte Hanna zum Abschied. Sie fühlte sich sehr gut an, so zart und warm. Ich wollte sie schon fragen, ob ich ihre Zahnbürste benutzen dürfe, doch das war wohl nicht der passende Augenblick.
»Danke für den Besuch«, sagte sie leise.
*
Freunde – ja Freunde! Freunde konnten sehr hilfreich sein, gegen Einsamkeit, gegen trübe Gedanken, gegen böse Gedanken. Sofort fielen ihm die beiden Humboldt-Brüder ein, sie hatten eine gute Beziehung zu ihm und Friedrich unterhalten. Sie pflegten einen regen Gedankenaustausch, und Wilhelm von Humboldt heiratete eine Freundin von Friedrichs Schwägerin Caroline von Wolzogen. Der weitaus bekanntere jedoch war Alexander von Humboldt, der Naturforscher, der lange Forschungsreisen durch Südamerika unternommen hatte. Er hatte sich überall in der Welt Anregungen geholt. Keine deutschen Namen wurden weltweit so oft genannt und gebraucht wie die von Goethe und Humboldt. Ob Straßen und Plätze, Pflanzen und Tiere, Minerale und Bergwerke, Bücher und Zeitschriften, Stiftungen, Medaillen, Denkmäler, Schulen und Hochschulen oder physikalische
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