Goetheruh
überleben, und natürlich war dies seine Story, die wollte er auskosten bis zum Schluss. Der eigentlich Schuldige war der Informant.
»Hast du den Artikel ausführlich gelesen?«, fragte mich Benno.
»Ja, habe ich. Meiner Ansicht nach kann der Informant nur Hans Blume sein. Er wusste von allen Raubzügen, außer vom Cornelia-Bild und der Statue, zu diesem Zeitpunkt war er bereits von dem Fall abgezogen.«
Ich hatte keine Lust, mit meiner Meinung hinter dem Berg zu halten. Scherer verzog keine Miene.
»Vorsicht, bitte«, sagte Siggi, »bisher ist das nur deine persönliche Meinung. Wir haben zu wenig Beweise, um ihn rechtlich belangen zu können. Aber zumindest wird der OB ein Anhörungsverfahren einleiten.«
»Gut so«, antwortete ich aufgewühlt, »das Ganze riecht so sehr nach Hans Blume wie …«
Der Schreiberling wollte protestieren, doch Benno schritt sofort ein. »Herr Scherer, ich rate Ihnen, den Mund zu halten!« Er war ziemlich aufgebracht. »Es ist besser, wenn Sie vorläufig nichts mehr zu diesem Thema sagen und insbesondere nichts mehr darüber schreiben. Ich kann es Ihnen natürlich nicht verbieten, denn ich respektiere die Pressefreiheit. Doch nach all der Diskussion hier heute morgen sollte Ihnen klar sein, wie wichtig es ist, bis zur Festnahme des Täters Stillschweigen zu bewahren und jegliche Form von journalistischer Inkontinenz zu unterlassen!« Er fixierte Sandro Scherer, der seinem Blick standhielt. »Ansonsten …«
»Ansonsten was?«
»Ansonsten … werde ich dafür sorgen, dass alle städtischen Anzeigen aus Ihrem Blatt zurückgezogen werden!«
»Das ist Erpressung!«, schrie Scherer entrüstet.
»Moment mal«, Siggi ging ungewohnt laut dazwischen, »wir machen Ihnen ein Angebot: Wenn Sie bis zur Festnahme des Täters nichts mehr veröffentlichen, erhalten die ›Thüringer Nachrichten‹ nach Abschluss des Falls die Exklusivrechte für die gesamte Story.«
Scherers Miene hellte sich auf.
»Aber nur, wenn Sie sachlich bleiben, und das Märchen von der ›Unprofessionellen Provinzpolizei‹ vergessen!«
»Einverstanden!«
Göschke war nicht sehr glücklich über diesen informationstechnischen Kuhhandel, doch bevor er etwas einwenden konnte, fügte Siggi hinzu: »Dann können Sie jetzt gehen, Herr Scherer!«
Als dieser den Raum verlassen hatte, machte Benno sofort weiter Druck: »Hendrik, welchen Einfluss hat die Veröffentlichung deiner Ansicht nach auf das Verhalten des Täters?«
Einen kurzen Moment war ich überrascht, dass Benno zuerst mich fragte und nicht den Psychologen. »Einen schlechten Einfluss«, antwortete ich dann, »weniger auf seine Beziehung zu uns, die ist klar. Doch nun wird er durch die öffentliche Meinung zusätzlich unter Druck gesetzt, und es steht zu befürchten, dass er etwas Unüberlegtes tun wird. Und das kann erhebliche Gefahren bergen.«
Ich sah den Psychologen an. »Richtig«, ergänzte er. »Bisher hat er nur gestohlen, doch es kann passieren, dass es nun zu einer Eskalation kommt, hervorgerufen durch die Kombination von innerem und äußerem Zwang.«
»Was heißt das? Gewalt gegen Personen?«
Stille im Raum.
»Schwer zu sagen«, entgegnete der Psychologe, »sehr schwer zu sagen …«
Ich hatte fast den Eindruck, dass ihm sein Rollkragenpullover zu eng wurde.
»Falls er ein berechnender Straftäter ist«, fuhr er fort, »kann es durchaus zu Gewalthandlungen kommen, insbesondere wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. Falls unsere These der psychischen Erkrankung stimmt, sehe ich die Gefahr der Gewalt gegen andere Personen nicht so hoch. Er wird eher seinen inneren Zwang bekämpfen und damit ist die Wahrscheinlichkeit der Autoaggression höher.«
»Mann, Sie reden ja manchmal wie ein Gelehrter«, schnarrte das Fagott laut.
Ich hatte fast vergessen, dass dieser Mensch noch im Raum war. »Selbstverletzendes Verhalten«, übersetzte ich leicht genervt.
»Nur gut, dass wir Sie als Sprachexperten dabei haben«, tönte Göschke sarkastisch.
»Auch Selbstmord?«, fragte Benno dazwischen.
»Möglich«, gab der Psychologe zurück.
»Dann wären wir den Kerl wenigstens los!« Die Stimme des Kriminalrats klang so gefühllos, dass ich für einen Moment Mitleid mit dem Dieb empfand. Aber nur für einen kurzen Moment.
*
Er liebte besonders die Gedichte von Goethe. Nicht die Balladen, die waren ihm zu lang und zu schwülstig, nein – die kurzen, inhaltsvollen Zeilen, die hatten es ihm angetan.
Ich weiß, daß mir nichts
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