Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
Großstadt,
in der man eine Stunde von einem Ende zum anderen benötigte oder jederzeit mit
unmotivierten Staus rechnen musste. Ich parkte direkt vor dem Studierzentrum
der Anna Amalia Bibliothek, ein kurzer Blick zur Uhr: 18.55 Uhr. Es war
Samstagabend, niemand war in der Bibliothek, keiner konnte mich ansprechen oder
fragen, was ich so spät noch hier wollte. Wenige Minuten darauf hatte ich das
kleine schwarze Gerät aus meiner Schreibtischschublade geholt und in meiner
Jacke verstaut. Ich schloss sorgfältig alle Türen, schaltete die Alarmanlage
wieder ein und fuhr zurück. Diesmal parkte ich in der
Hoffmann-von-Fallersleben-Straße nahe dem Busbahnhof. Genau um 19.25 Uhr grüßte
ich den Pförtner am Bühneneingang, der mich sofort durchließ. Schnell stieg ich
die Treppen hoch, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und schaffte es
rechtzeitig vor dem Vorstellungsbeginn, die Tür zum Schnürboden hinter mir zu
schließen.
Es war
dunkel. Ich hielt mich von innen am Türgriff fest und versuchte, meinen Atem zu
beruhigen. Ich wartete. Noch immer konnte ich nichts erkennen. Dann öffnete
sich der Vorhang und die Scheinwerfer warfen ihr forderndes Licht auf die Bühne
unter mir. Das Spiel begann.
Während
die Schauspieler agierten und deklamierten, versuchte ich, mir einen Überblick
zu verschaffen. Ich erinnerte mich an Christoph Heckels Worte, als er uns
während der Theaterbegehung den Schnürboden gezeigt hatte: ›Dies ist ein vom
Publikum nicht einsehbarer Bereich viele Meter über der Bühnenfläche. Hier
werden große Dekorationsteile an Stahlseilen heruntergelassen beziehungsweise
nach oben gezogen, auch zusätzliche Beleuchtungselemente und Zwischenwände,
manchmal sogar lebende Personen. Mit den vielen Zugseilen, den eingerollten
Prospekten und Zuglatten vermittelt der Schnürboden einen maschinellen, fast
industriellen Eindruck. Doch in seiner lautlosen Präzision strahlt er für mich
zugleich eine Art mystische Schönheit aus.‹ Damals, bei der Theaterbegehung, fand
ich diese Worte etwas zu pathetisch. Hier und heute, im Halbdunkel stehend,
trafen sie genau meine Empfindungen. Soeben wurde ein Zwischenvorhang
heruntergelassen, präzise, computergesteuert und absolut geräuschlos. Während
vor diesem zusätzlichen Trennvorhang der Fiesco weiterlief, wurden dahinter,
von oben teilweise einsehbar, Möbel gerückt, Dekoteile ausgetauscht, zwei
zusätzliche Scheinwerfer herabgelassen und Schauspieler in Position gebracht.
Als ich dies beobachtete, erinnerte ich mich daran, wie Heckel darauf
hingewiesen hatte, dass die Bühne der einzige Ort sei, an dem sich Personen
ohne Schutzhelm unter frei schwebenden Lasten aufhalten dürfen. Dementsprechend
galten hier erhöhte Sicherheitsbedingungen. Minuten später bewegte sich der
Zwischenvorhang wieder nach oben und der neugestaltete Raum konnte bespielt
werden.
Im
gedämpften Licht des Schnürbodens sah ich in einigen Metern Entfernung drei
personengleiche Schatten. Einer davon befand sich direkt neben einem großen
Scheinwerfer, den er von Zeit zu Zeit justierte, ein anderer schien
mischpultähnliche Schieberegister zu bedienen. Der dritte Schatten hockte nur
da, völlig bewegungslos. Es war ein Mann. Er schien auf die Bühne zu starren,
als sei diese ein außerirdisches Faszinosum. Allein seine Körperhaltung verriet
mir, dass ich den Mann unmöglich stören konnte. Außerdem befand sich zwischen
ihm und mir ein schmaler, freitragender Metallsteg mit Geländern rechts und
links, den ich niemals geräuschlos hätte überqueren können. Ich beschloss zu
warten. Vorsichtig tastete ich nach dem kleinen Gerät in meiner Jackentasche.
Alles in Ordnung.
Endlich
fiel der Pausenvorhang. Das Licht im Zuschauerraum erstrahlte, und hinter der
Bühne begann eine kontrollierte Offensive zur Vorbereitung des nächsten Akts.
Joachim
Waldmann bemerkte mich nicht. Er war völlig in sich gefangen. Ich wartete eine
Weile, vielleicht würde er ja zu mir herübersehen. Aber nichts dergleichen, er
starrte weiter auf die Bühne. Ich löste mich von der Tür und betrat den
Metallsteg. Wie zu erwarten, klangen meine Schritte hart in die Leere des
Schnürbodens. Ich stand neben Waldmann, dennoch nahm er keinerlei Notiz von
mir.
»Herr
Waldmann?«
Er hob
langsam den Kopf, wie ein erwachender Träumer. »Herr Wilmut, was machen Sie
denn hier?«
»Entschuldigen
Sie die Störung, ich wollte gern mit Ihnen reden, haben Sie vielleicht ein paar
Minuten Zeit?«
»Ja«,
sagte er und stand
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