Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
Lebenslauf von
Reinhardt Liebrich noch einmal gedanklich durchging, fiel mir etwas Wichtiges
auf: Genau zu dem Zeitpunkt, als Steffi Feinert sich mithilfe ihres Freundes
Jan von Liebrich lossagte, holte dieser sich Waldmann als neuen Sklaven. Er
brauchte offensichtlich immer jemanden, der an ihn gebunden war. Wie eine Art
Sucht? Zu gerne hätte ich den Polizeipsychologen befragt, den ich während der Zusammenarbeit
in einem früheren Fall kennengelernt hatte. Aber der Kontakt zu ihm war
komplett abgebrochen, auch Siggi wusste nicht, wo er sich aufhielt.
Jedenfalls
hatte mir Waldmann – bewusst oder unbewusst – mitgeteilt, dass Liebrich eine
Entscheidung für Benno getroffen hatte, die dieser tief in seinem Inneren gar
nicht wollte. Und diese Aussage war auf dem Band gespeichert. Das sollte für
meine Zwecke genügen. Sophie war tot, vielleicht schaffte ich es, wenigstens
Benno zu retten.
26. Weimar, Busbahnhof
Bevor ich losfuhr, wollte ich
noch das erledigen, was ich mir am Donnerstag auf der Fahrt in die Bibliothek
vorgenommen hatte: die Erkundung der Gegend um das Hummel-Denkmal, dem Ort des
letzten Lebenszeichens von Jolanta Pajak. Mein Blick fiel auf das kleine,
schäbige Wartehäuschen am Busbahnhof. Es lag in der Mitte des Wendehammers am
Ende der Hoffmann-von-Fallersleben-Straße. Dahinter erstreckte sich der Sophienstiftsplatz,
der von der Rückfront des Theaters mit dem Bühneneingang abgeschlossen wurde. Hier,
am Wendehammer, war es recht dunkel, weite Baumkronen schirmten das Mondlicht
ab, teilweise auch das Licht der Straßenlaternen. Konnten die Entführer Jolanta
Pajak hierher geschleppt haben? Eher unwahrscheinlich, ein Busbahnhof ist
üblicherweise sehr belebt, auch abends, nicht eben die geeignete Kulisse für
eine Entführung. Dennoch stieg ich aus, ging mehrmals um das kleine
Wartehäuschen herum, maß Entfernungen ab, versuchte mir vorzustellen, wie ein
Entführer wohl handeln würde.
Schließlich
ging ich in das Häuschen hinein. Es war leer, im Halbdunkel konnte ich nichts
Nennenswertes erkennen, Sitzbänke, vollgeschmierte Wände wie in Berlin,
Frankfurt oder Offenbach.
Mir
fiel ein, dass ich eine Taschenlampe im Kofferraum hatte. Wieder zurück im
Wartehäuschen begann ich, den Fußboden abzusuchen. Nichts. Dann die Wände. Eine
nach der anderen. Nur blöde Sprüche und mehr oder weniger witzige Zeichnungen.
Doch da: ›Hilfe‹. Mitten in einen Cartoon-Kopf hineingemalt. Ich ging näher
heran, leuchtete direkt auf das Wort. Die gleiche Handschrift. Jolanta Pajak.
Und eine Uhrzeit: ›22.52 Uhr‹.
Zwölf
Minuten nachdem Frau Pajak das Theater verlassen hatte. Das könnte passen. Ich
zog mein Handy aus der Hosentasche, meine Hand zitterte. Keine Viertelstunde
später stand Siggi vor mir, der Platz wurde hell erleuchtet, die
Spurensicherung begann ihre Arbeit. Zum Glück war Meininger nirgends zu sehen.
Siggi studierte den Busfahrplan und telefonierte mehrfach. Schließlich fluchte
und schimpfte er ins Telefon, so wie ich es bisher selten erlebt hatte.
Ich hob
erstaunt die Augenbrauen, als er auf mich zukam. »Ich habe eine Spur, kommst du
mit?« Natürlich kam ich mit.
Der
Streifenwagen brachte uns nach Oberweimar. Auf der Fahrt dorthin berichtete
Siggi, dass seinen Kollegen ein folgenschwerer Fehler unterlaufen war. Sie
hatten zwar die Busfahrer der Stadtbusse befragt, die in der Nähe des Theaters
verkehrten, aber nicht die Fahrer der Regionalbusse, die eben von diesem
Busbahnhof in die Region um Weimar fuhren, nach Erfurt, Buttelstedt oder
Mellingen. Der nächste Bus, der direkt nach 22.52 Uhr hier abgefahren war, ging
in Richtung Bad Berka. Den Busfahrer hatte Siggi ermitteln können, er wohnte in
der Bodelschwinghstraße, wir waren auf dem Weg dorthin.
Es war
kurz nach halb zehn, als wir klingelten. Der Mann war nicht begeistert, denn er
musste um 5 Uhr wieder aufstehen, um die Sonntagsfrühschicht zu übernehmen.
»Ist
Ihnen etwas aufgefallen, am Mittwoch voriger Woche auf Ihrer letzten Fahrt nach
Bad Berka?«, fragte Siggi.
»Nee,
nichts«, antwortete der Busfahrer, »kann mich auch nicht an alles erinnern, ist
ja schon über eine Woche her und überhaupt, ich bin jetzt müde, lassen Sie mich
in Ruhe.«
Wir
hatten uns bereits verabschiedet, als Siggi meinte, ob er sich vielleicht an
zwei Frauen und einen Mann erinnern könne, die sich merkwürdig verhalten
hätten.
Schlagartig
wurde der Mann ganz aufgeregt. »Na klar, ich hab am Busbahnhof gewartet, an der
Berkaer
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