Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
auf, »bis zum Ende der Pause, mehr nicht.«
»Das
reicht, vielen Dank.« Er sah mich auffordernd an. Ich schätzte ihn auf Mitte
30, er hatte gut frisierte Haare, war mittelgroß, leicht untersetzt, sein
Pullover spannte etwas über dem Bauch. »Herr Waldmann, ich möchte gerne mit
Ihnen über Benno Kessler sprechen.« Sein Gesicht zeigte keinerlei Reaktion.
»Und über Herrn Liebrich.«
Waldmann
nickte. »Um was geht es denn?«
Ich
ließ meine Hand wie zufällig in die Jackentasche gleiten und fuhr fort: »Die
beiden sind ja seit einiger Zeit eng befreundet …«
»Ich
weiß«, antwortete er.
Ich
benutzte absichtlich das Wort ›eng‹, um zu testen, ob er etwas gegen diesen
Begriff einzuwenden hatte. Nein, hatte er nicht. »Stört Sie das?«
Er sah
mich entrüstet an. »Na, hören Sie mal, Herr Liebrich ist mein Arbeitgeber, mit
wem er befreundet ist, geht mich überhaupt nichts an!«
Natürlich,
blöde Frage, ich musste aufpassen. Ich zögerte.
»Was
wollen Sie eigentlich, Herr Wilmut?«
»Entschuldigen
Sie, das war eine unnötige Frage, es geht darum, dass Herr Kessler nach
Frankfurt gehen will. Seine Frau ist hier verwurzelt, sie möchte nicht
mitgehen.« Es fiel mir sehr schwer, so zu tun, als sei Sophie noch am Leben,
aber ich wollte herausbekommen, ob Waldmann etwas darüber wusste. »Es ist
möglich, dass die beiden sich trennen, verstehen Sie … und das möchte ich gerne
verhindern.«
»Ich
weiß«, antwortete er.
»Sie
wissen, dass die beiden sich trennen wollen?«, hakte ich nach.
»Ja,
und auch, dass Sie das verhindern wollen. Ist ja sehr offensichtlich.«
Entweder
wusste Waldmann wirklich nichts von Sophies Tod und war damit auch nicht an
ihrem Mord beteiligt oder er war ein völlig abgebrühter Mensch. Ich versuchte,
mich vorsichtig weiter voranzutasten. »Ich hoffe, Sie können das verstehen …
ich meine, dass ich es verhindern will.«
»Na ja
… irgendwie schon«, sein Blick schien Verständnis zu signalisieren.
»Ich
habe den Eindruck, dass Herr Liebrich es gut findet, wenn Benno, also Herr
Kessler, nach Frankfurt geht.«
»Sie
glauben doch nicht ernsthaft, dass ich Herrn Liebrichs Entscheidungen
kommentiere.«
Aha,
dachte ich. Eine Entscheidung war das also. Kein freundschaftlicher Rat, sondern
eine unantastbare, nicht zu kommentierende Entscheidung.
»Das
habe ich auch nicht erwartet«, sagte ich, »allerdings bin ich ziemlich
verzweifelt, um ehrlich zu sein. Ich würde einen Freund verlieren. Das ist
schwer, nicht wahr?«
»Ja,
das stimmt.«
Einer
Eingebung folgend fragte ich: »Haben Sie schon einmal Ähnliches erlebt?«
Er sah
zur Bühne hinunter. »Ja, es ist schwer, jemanden zu verlassen. Besonders, wenn
man es eigentlich gar nicht selbst will …«
Die
Fanfare zum nächsten Akt unterbrach uns.
»Herr Waldmann,
bitte nehmen Sie Ihren Platz ein«, rief der Beleuchter, und zu mir gewandt:
»Wer sind Sie eigentlich?«
»Hendrik
Wilmut, Herr Heckel hat mich angekündigt.«
»Ach
ja, bleiben Sie noch?«
»Nein,
danke. Ich wollte nur kurz mit Herrn Waldmann sprechen. Auf Wiedersehen!« Mit
der zweiten Fanfare fiel die Tür zum Schnürboden hinter mir ins Schloss. Ich
griff in die Tasche und schaltete das Diktiergerät aus.
Zwei Minuten später saß ich in
meinem Auto in der Hoffmann-von-Fallersleben-Straße. Geradezu begierig spulte
ich das Band des Diktiergeräts zurück. Die Aufnahme war nicht von besonderer
Qualität, aber größtenteils gut zu verstehen. Ich hörte mir das Gespräch
mehrere Male an. Es gab zwei Knackpunkte. Der eine war mir bereits während der
Unterhaltung mit Waldmann aufgefallen: Kein Ratschlag, sondern eine
Entscheidung. Der Zweite fiel mir erst beim Abhören des Bandes auf: ›Es ist
schwer, jemanden zu verlassen. Besonders, wenn man es eigentlich gar nicht selbst will.‹ Eine seltsame Formulierung. Üblicherweise würde man sagen: … wenn man es
gar nicht will. Wozu dieses fast künstlich eingeflochtene selbst .
Langsam, wie ein aufziehender Kopfschmerz, den man erst bemerkt, wenn er
krakenartig den gesamten Kopf umklammert hat, kam mir die Erkenntnis: Nicht
Benno wollte es, sondern Liebrich. Auch Waldmann wollte es nicht, sondern Liebrich.
Beide, Benno und Waldmann, wurden von diesem Machtmenschen im Griff gehalten.
Schon im Offenbacher ›Tafelspitz‹ hatten Richard Volk und ich über das seltsame
Verhältnis von Waldmann und Liebrich gesprochen. Jetzt war mir klar, was dieses seltsam bedeutete: Abhängigkeit. Und als ich den
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