Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
Gefühl
der Trauer. Den ganzen Tag über hatte ich, abgelenkt von all den Aktivitäten,
keine Gelegenheit dazu gehabt. Jetzt war die Zeit gekommen. Und die Tränen
befreiten. Auch wenn ich kaum glauben konnte, sie niemals wiedersehen zu
können.
Johann
Wolfgang von Goethe hatte sich in einer ähnlichen Situation, nach dem Tod
seines Gönners und Freundes Carl August, in die Dornburger Schlösser
zurückgezogen, um, wie er sagte, angesichts des schmerzlichen Zustands seiner
inneren Sinne wenigstens seine äußeren Sinne zu schonen. So tat es auch mir
gut, in diesem abgeschlossenen Zimmer, nur die schlafende Hanna neben mir, die
restliche Welt für einige Stunden auszuschließen. Ich hielt ihre Hand und
schlief langsam ein.
Irgendwo
auf dem Weg vom Wachsein zum Schlaf sah ich das Goethehaus vor mir. Ich hatte
es in letzter Zeit sehr vernachlässigt. Üblicherweise streifte ich einmal die
Woche durch die ehrwürdigen Räume. Ich sah mich durch Goethes Gelben Saal
gehen, die zehn kolorierten Radierungen von Nicolas Dorigny über mir schwebend,
Venus, Psyche, Amor, die Grazien, Jupiter. Die Gesichter wandelten sich zu
menschlichen Antlitzen, die blonde Ewa Janowska, Hubertus von Wengler mit den
buschigen Augenbrauen, Liebrich, wie ein Fels in der Brandung stehend, der
schleichende Waldmann, Benno am Mainufer mit Sophie … halt!
Ich
fuhr hoch. Sophie konnte nicht mehr am Main spazieren gehen. Sie war tot. Ich
ließ mich wieder in den Sessel fallen. Meine Augen fielen erneut zu.
Träumend
stand ich im Großen Sammlungszimmer, das Bildnis von Herzog Carl August in
meinem Rücken, und blickte die berühmte Zimmerflucht entlang, die
Majolika-Sammlung, das Deckenzimmer und den Gelben Saal streifend, längs durchs
Juno-Zimmer bis hin zu der lichtblauen Wand, die diesen einmaligen Blick
abschloss und in ihrer Mitte ein gewaltiges Kunstwerk trug: Das Bildnis des
Francesco Maria II. Della Rovere, genannt Herzog von Urbino. Ich sah mich
langsam auf das Bild zugehen. Dieser Francesco war eine tragische Person
gewesen. Er stammte aus der berühmten Familie della Rovere, die zwei Päpste
stellte und deren Erbe er mangels eines männlichen Nachfolgers nicht halten
konnte. Er blieb in erster Ehe kinderlos, seine zweite Frau gebar ihm einen
Sohn, der jedoch jung verstarb, wodurch sein Herzogtum an den Vatikanstaat
fiel. Federico Barocci hatte ihn porträtiert, mit einer besonders fein
dargestellten Hand, einem schlank geschnittenen Gesicht, das mich magisch
anzog, es kam auf mich zu, es verzog sich zu einer Fratze und die Fratze war …
Liebrich!
Ich
schrie auf. Schweiß rann mir den Hals hinab. Hanna schlief zum Glück weiterhin,
üblicherweise, wenn ich aus meinen Albträumen hochschreckte, wachte sie auf und
beruhigte mich. Nicht so heute. Die Schlaftabletten taten ihre Wirkung.
Ich
ging ins Bad und wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Dann stand ich erneut
am Fenster. Halb sechs, draußen lag alles im Dunkeln. Was war dies für ein
seltsamer Traum? Es war nicht mein üblicher Albtraum, den ich kannte, in dem
ich an einer hohen Felskante stand, hinter mir dunkler Wald, unten ein
gemütliches, hell erleuchtetes Dorf, das mich so magisch anzog, dass ich die
Arme ausbreitete … Immer wieder durchlebte ich diesen Traum, gefühlte tausend
Mal bereits. Doch heute war es anders. Liebrich, immer wieder dieser Liebrich.
So als wollte mein Unterbewusstsein mich zwingen, mehr über diesen Mann
nachzudenken. Ich fand es schwer, mich in eine unsympathische Person
hineinzuversetzen. Unser Gespräch in seinem Haus fiel mir wieder ein.
Er
duzte Benno nicht. Vielleicht war das weniger Cleverness als mehr ein inneres
Abstandhalten. Das würde passen zu meiner Theorie des Machtmenschen – nicht
Freundschaft, sondern Abhängigkeit zu erzeugen. Er hatte Honoré de Balzac
erwähnt: ›Freundschaft, dieser Zustand, in dem jeder der Freunde glaubt, dem
anderen gegenüber eine leichte Überlegenheit zu haben.‹ Auch das passte. Wenn
jemand Freundschaft mit Überlegenheit paarte, dann war aus meiner Sicht die
freundschaftliche Verbindung zwischen diesen Menschen zu Ende. Dann fing
Beeinflussung an und führte zu Ausnutzung bis hin zur Machtausübung.
In dem
Krankenhausflügel neben uns gingen die ersten Lichter an. Ich sah auf die Uhr,
viertel vor sechs. Bald würde die Frühschicht auch die Station M3 wecken.
Und
dann seine Worte – ich konnte sie nicht mehr wiederholen –, mit denen er
versucht hatte, meinen kleinen, unbedachten Einwurf
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