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Götter der Nacht

Titel: Götter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Grimbert
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darunter leide, untätig bleiben zu müssen und nicht eingreifen zu können. Doch wir hatten genug Zeit mit ihm verbracht, um ihm seine Tatenlosigkeit nicht zu verübeln. Er war Nol der Lehrende, und darauf beschränkte sich seine Aufgabe.
    Die Kinder, die nichts von ihrer Sanftmut verloren hatten, scharten sich um uns. Obwohl wir von unseren Erlebnissen tief erschüttert waren, bemühten wir uns wie zuvor, sie nicht zu beeinflussen. Wir ließen zu, dass sie uns betrachteten und berührten, und lauschten ihrem unverständlichen Geplapper. Insgeheim hofften wir alle, eines von ihnen würde das Wort an uns richten, so wie es Tiramis, Fer’t und Moboq zuvor ergangen war. Und Saat.
    Eines der ältesten Kinder starrte auf den blutgetränkten Stofffetzen, mit dem Arkane seinen Armstumpf verbunden hatte. Der König versuchte zu lächeln, doch weil er auch am Kopf verwundet war, verzog sich sein Gesicht zu einer scheußlichen Fratze.
    Rafa litt sehr unter seinen Verbrennungen, und bisweilen stöhnte er vor Schmerzen auf. Jedes Mal zuckten die Kinder zusammen und warfen dem Ramgrith mit den verkohlten Haaren und dem rußverschmierten Gesicht ratlose Blicke zu.

    Zwei kleine zogen an Tiramis’ Hand, doch diesmal strich ihnen die Ratsfrau nicht wie sonst über den Kopf. Yon bettete die ohnmächtige Kaulanerin behutsam ins Gras und legte den Götterkindern tröstend eine Hand auf die Schulter. Doch das reichte nicht aus …
    Nun lächelte keins der Kinder mehr. Die jüngsten begannen zu weinen, und bald folgten die älteren ihrem Beispiel.
    Die Götter weinten. Eine Tragödie für die Menschen.
    »Ihr müsst gehen«, sagte Nol. »Die Harmonie ist gestört.«
    Er sprach nur aus, was wir längst wussten. Wären wir noch länger geblieben, hätte das schlimme Folgen gehabt. Außerdem hielt uns nichts mehr im Jal’dara …
    Arkanes Wunden mussten dringend versorgt werden. Selbst im Jal’dara waren solche Verletzungen gefährlich. Ich wage mir nicht vorzustellen, was geschehen wäre, wenn der König vor den Augen der Götterkinder gestorben wäre.
    Nol führte uns ohne Umschweife zur Pforte. Im ersten Moment überraschte mich das, aber mit einer feierlichen Abschiedszeremonie war auch nicht zu rechnen gewesen. Die Kinder würden uns rasch vergessen. Zumindest stand das zu hoffen. Bis auf den Hüter des Tals sagte uns niemand Lebewohl.
    Als sich Nol der Pforte näherte, begann sie sich zu öffnen. Das Pfeifen, das Licht, der Nebel … Wir hatten fast vergessen, dass Nol selbst der Ewige Wächter der Pforte des Dara war.
    Der Nebel unter dem Bogen verflüchtigte sich, und vor unseren Augen erschien der Wald der Baumriesen im Land Oo.
    »Und was ist mit dem Lindwurm?«, protestierte Pal’b’ree der Wallatte, als Nol ihm bedeutete, die Pforte zu durchschreiten.
    »In Eurer Welt ist die Jahreszeit der Erde angebrochen«, beruhigte ihn Nol. »Vermutlich schläft er.«
    »Sollte er das nicht auch schon auf dem Hinweg?«, knurrte der Wallatte, bevor er durch die Pforte trat.

    Er hatte nicht ein Wort des Abschieds oder einen letzten Blick für uns übrig, obwohl er uns sein Leben verdankte. Seine einzige Sorge galt dem grausamen Ewigen Wächter, der drei Tage vor dem Tag der Eule fast alle Gesandten aus dem Osten getötet hatte. Von den acht Weisen, die die Barbarenvölker entsandt hatten, waren nur zwei im Jal’dara angelangt. Und Fer’t der Solener würde es nie mehr verlassen.
    »Ich wollte gerade vorschlagen, ihm die Pforte von Tuz zu öffnen«, sagte Nol, während der Wald vor ihren Augen verschwamm. »Oder die von Walloranta oder Grelith. Er musste nicht unbedingt ins Land Oo zurückkehren.«
    »Was sagtet Ihr vorhin über die Jahreszeit der Erde?«, fragte der Weise Moboq.
    »In Eurer Welt ist sie vor wenigen Tagen angebrochen. Die Zeit ist die mächtigste Kraft im Universum«, erklärte der Hüter. »Doch es gibt Orte, an denen sie weniger wirksam ist.«
    »Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Herzog Reyan. »Wie lange waren wir denn hier?«
    »Sechs Dekaden in der Zeitrechnung Eurer Welt. Wenn Ihr nicht ins Karu hinabgestiegen wärt, hätte ich Euch früher zurückschicken können. Es tut mir leid.«
    Wir sahen uns stumm an, denn seine Worte verschlugen uns die Sprache. Unser Aufenthalt war uns fünfmal kürzer vorgekommen.
    Nol machte eine Handbewegung, woraufhin sich der Nebel unter dem Bogen abermals lichtete und die Höhle der Insel Ji vor unseren Augen erschien. Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, doch ich

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