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Götter der Nacht

Titel: Götter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Grimbert
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Blick reichte aus, um ihn eine Entscheidung treffen zu lassen. Von links und rechts und vorn und vermutlich auch von hinten glitten mehrere dieser seltsamen Kragenschlangen auf ihn zu. Rey sah mindestens fünf, doch es konnten genauso gut dreißig sein.
    Mit den Füßen voran sprang er in das dichte Netz aus Schlingpflanzen und durchschlug zwei Ebenen, bevor ihn das Seil um die Brust mit einem Ruck bremste. Mit zerkratztem und zerschundenem Körper und der Schlange um den Fuß, die sich in seiner Wade verbissen hatte, säbelte er hastig das Seil durch und ließ sich die letzten fünfzehn Schritte, die ihn vom Boden trennten, fallen, ohne irgendwo Halt zu suchen.
    Er plumpste seinen erschrockenen Freunden vor die Füße und rollte sich ab. Beherzt packte Grigán die Schlange am Kragen, und Léti hebelte ihr mit einem Dolch die Kiefer auseinander. Zum Glück lebte das Reptil nicht mehr. Im Tod hatten sich seine Kiefermuskeln zusammengekrampft.
    Unter Stöhnen zog sich Rey den Stiefel vom Fuß, während
mehrere Nagetiere und Insekten, die er bei seinem Sturz mit sich gerissen hatte, panisch die Flucht ergriffen.
    Die Wunde war tief, wenn man bedachte, dass sich die Schlange erst durch den Lederstiefel hatte beißen müssen. Jedenfalls hatte sie ihre Zähne in die Haut gebohrt, und aus der Wunde rann Blut.
    »Eine Schlange mit richtigen Zähnen!«, wunderte sich Bowbaq, als er den Kadaver des Reptils untersuchte. »Wie seltsam!«
    »Als wäre sie eine Art Raubfisch …«, ergänzte Yan und gesellte sich zu seinen Freunden, die den Verletzten umringten.
    Corenn untersuchte Reys Wunde sorgfältig. Die Haut hatte sich nicht verfärbt, also schien der Biss nicht giftig gewesen zu sein.
    »Es geht schon, Corenn«, sagte Rey. »Ich glaube, ich habe vor allem einen Riesenschreck bekommen«, gestand er. »Macht Euch keine Sorgen.«
    Während Lana die Wunde verband, betrachtete er das undurchdringliche Pflanzengewirr über ihren Köpfen. Wie viele dieser Kragenschlangen mochten sich darin verbergen? Und welche anderen Gefahren lauerten in den Bäumen?
     
     
     
    Die ersten Baumriesen, die sie untersuchten, waren eine Enttäuschung. Da sie durch Reys Unfall Zeit verloren hatten und die Nacht unter dem grünen Dach aus Schlingpflanzen noch schneller hereinzubrechen schien als anderswo, verschoben sie die Suche auf den nächsten Tag und hofften, dass sie dann mehr Glück haben würden.
    Trotz der Kälte, die vom Boden heraufkroch, verbot Corenn ihnen, Feuer zu machen oder auch nur eine Laterne
anzuzünden. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, damit den Lindwurm anzulocken, gering war, durften sie kein Risiko eingehen.
    So fanden sie erst spät in der Nacht Schlaf, als die Müdigkeit endlich ihre vor Kälte tauben Glieder besiegte. In der undurchdringlichen Finsternis lagen sie dicht aneinandergeschmiegt. Das Licht der Sterne vermochte das Pflanzendickicht nicht zu durchdringen, und im ganzen Wald raschelte, knackte, wisperte, quiekte, tapste und knabberte es, während Nachtvögel auf Beutejagd gingen und rastlose Insekten durch die Luft sirrten.
    »Vielleicht ist das unsere letzte Nacht in dieser Welt«, flüsterte Yan, teils zu sich selbst, teils zu Léti.
    »Was redest du da?«, fuhr sie ihn an. »Wir werden nicht sterben. Erst, wenn wir alt sind.«
    »Nein, ich meine … Morgen Abend sind wir vielleicht schon im Jal’dara. Wir werden Göttern begegnen, Léti.«
    »Du bist doch schon einem begegnet«, stellte sie ungerührt fest.
    »Ja, aber …«
    Er ließ die Sache auf sich beruhen. Schließlich war er der Einzige, der wusste, welche Gefühle eine solche Begegnung auslöste.
    In der Kinderstube der Götter würden diese vermutlich noch um ein Vielfaches stärker sein.
     
     
     
    Am nächsten Morgen waren sie wie gerädert. Sie brachen schon bei Sonnenaufgang auf, denn dieser Tag würde über ihre Zukunft entscheiden.
    Seit über einer Dekade hatten sie mit keinem Fremden mehr gesprochen, und fast ebenso lang hatten sie keine anderen
Menschen zu Gesicht bekommen. Das öde und eintönige Land Oo, das zugleich stumm und voller Geräusche war, hielt ihnen ihre Einsamkeit wie einen Spiegel vor. Im Wald der Baumriesen konnte man nicht einmal genau sagen, ob es gerade Tag oder Nacht war. Die Erben schienen durch einen Albtraum zu wandeln.
    Wie am Vortag ritten sie los und versuchten die Baumriesen zu finden, deren Standort sich Rey eingeprägt hatte. Doch nach mehreren Enttäuschungen verloren sie zusehends den Mut. Außerdem wurde

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