Götter der Nacht
uneinnehmbare Festung, ganz anders als ihre reichen Schwestern im Landesinneren. Zu Zeiten der Zwei Reiche war Semilia nur ein Vorposten gewesen. Unter dem Schutz der Handelsmacht war die Stadt dann zu einem Fürstentum aufgestiegen, das die Nordwestgrenze sicherte und Lorelien vor dem Einfall von Straßenräubern bewahrte.
Während sie zum Stadttor hinabstiegen, dachte Yan, dass es hier in der warmen Jahreszeit wunderschön sein musste. Im Sommer würden die schneebedeckten Berghänge von üppigem Grün überzogen sein - ein Paradies für Schäfer und Jäger. Von den umliegenden Gipfeln würden unzählige Rinnsale und Bäche zu einem der beiden Seen am Fuß der Stadtmauer fließen. Der größere war bis ins Matriarchat für seinen Fischreichtum bekannt.
Yan hätte nie gedacht, dass er den See eines Tages mit eigenen Augen sehen würde. Aber hatte er in der letzten Zeit nicht so viel Neues erlebt? Wohin würde es ihn und die anderen wohl in der nächsten Dekade verschlagen?
Plötzlich stach ihm die Ähnlichkeit zwischen der Umgebung von Semilia und dem Jal’dara ins Auge. Mit klopfendem Herzen sah er sich um und suchte nach einem Beweis für diesen Eindruck. Doch trotz der Dunkelheit musste er sich eingestehen, dass das vor ihm liegende Tal nicht an die Schönheit des Landes hinter der Pforte, die sie nicht zu durchschreiten vermocht hatten, heranreichte - ohnehin nur eine blasse Erinnerung an eine flüchtige Vision.
Beim Betreten jeder lorelischen Stadt wurde Wegezoll erhoben, und Semilia stellte keine Ausnahme dar, obwohl das Fürstentum wirtschaftlich von Lorelien unabhängig
war. Glücklicherweise respektierten die Zöllner das Recht auf freie Durchreise, das den Gauklern traditionell gewährt wurde, und beschränkten sich darauf, einen kurzen Blick in jeden Wagen zu werfen. Nakapan steckte ihnen anstandshalber ein paar Münzen zu, dann durfte die Karawane in die Stadt einziehen.
In Semilia gab es nur wenige Gasthäuser, dafür aber eine freie Herberge, was ein recht schmeichelhafter Name für eine Ansammlung verfallener Hütten war, in denen Reisende von auswärts übernachten durften. Die Gaukler, die sich hier auskannten, brachten die Wagen und Pferde in den Stall und entzündeten in zwei Kaminen einige Torfballen, die zwar furchtbar qualmten, aber dennoch eine anheimelnde Wärme verbreiteten.
Die größte Hütte diente zugleich als Schlafgemach, Küche, Wohnzimmer und dem Geruch nach zu urteilen auch als Abort. Zwei Vagabunden hatten es sich bereits vor dem Feuer bequem gemacht und murrten über die neuen Gäste, verstummten aber, als sie sahen, wie viele es waren. Einer trug eine Kette aus Zähnen um den Hals.
»Mit dem Eroberten Schloss kann man das nicht gerade vergleichen«, sagte Rey naserümpfend. »Wie wär’s, wenn wir uns auf die Suche nach einem anständigen Gasthaus machten?«
»Das wäre taktlos«, wandte Corenn ein. »Dank der Gaukler haben wir ein Dach über dem Kopf. Wenn wir uns weigern, hier zu übernachten, käme das einer Beleidigung gleich.«
»Aber vielleicht wünscht sich Lana etwas mehr Bequemlichkeit«, beharrte Rey.
»Der Wolf lächelt, aber er zeigt dabei seine Zähne«, sagte Lana, und die Gefährten brachen in Gelächter aus.
Rey antwortete nicht und machte sich auf die Suche nach Cavale, in der Hoffnung, der Jongleur würde eine Schänke in der Stadt kennen, wo man einige Becher leeren konnte.
Die beiden Männer brachen bald auf, und Nakapan, sein Sohn der Akrobat, die geschminkten Zwerge, der Affendompteur und ein Spaßmacher schlossen sich ihnen an.
Die Erben befreiten einen Teil des Raums vom gröbsten Schmutz, trugen das Gepäck herein und breiteten ihre Decken aus. Als sie sich umgezogen und etwas Warmes gegessen hatten, kam ihnen die Unterkunft gleich viel behaglicher vor - beinahe heimelig.
Grigán legte sich als Erster schlafen, was die Gefährten erstaunte, denn sie waren es gewohnt, dass er als Letzter zu Bett ging. Doch der Tag war für ihn noch anstrengender gewesen als für die anderen, da er als Späher weite Strecken zurückgelegt hatte. So unterhielten sie sich im Flüsterton, um ihn nicht zu stören.
Die Zeit verstrich gemächlich, und der beschwerliche Tag wäre friedlich ausgeklungen, wenn nicht ein misslicher Vorfall die Erben aufgeschreckt hätte.
Mit einem Mal sprang die Tür auf, und der Affendompteur kam hereingetorkelt. Er war sturzbetrunken und brabbelte unverständliches Zeug. Der Mann ließ seinen Blick über die
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