Götter der Nacht
sollte er noch damit warten? Vielleicht hielt die Zukunft bessere Gelegenheiten bereit, vielleicht aber auch keine einzige mehr. Wann, wenn nicht jetzt?
Yan machte einen Schritt auf seine Geliebte zu, dann einen zweiten - und blieb plötzlich stehen. Ihm war wieder eingefallen, warum es jetzt nicht ging.
Usul hatte vorhergesagt, dass er den Bund mit Léti eingehen würde. Das wünschte sich Yan mehr als alles andere auf der Welt. Aber der Gott hatte auch Grigáns bevorstehenden Tod und den Niedergang der Oberen Königreiche verkündet. Yan würde alles tun, um diese Zukunft zu verhindern. Doch hing das Ganze nicht irgendwie zusammen?
Wie so oft fühlte er sich wie gelähmt. Er wagte nicht zu handeln, aus Angst, das angekündigte Unglück noch schneller heraufzubeschwören - oder die Verwirklichung seiner Wünsche, die er von ganzem Herzen herbeisehnte, zu verhindern.
Mit hängendem Kopf stellte er sich wieder neben Rey. Der Schauspieler schwieg. Wäre Lana nicht Priesterin, so wüsste er ganz genau, was er tun würde.
Der nächste Tag verlief nicht anders als der erste im Klammen Tal. Da die Straßenräuber sie in Frieden ließen, gelangten die Reisenden ohne Zwischenfälle an den Fuß der Nebelberge. Im Morgengrauen des Tags der Weber, sechs Tage vor dem Tag der Erde, an dem der Jahrmarkt in Le Pont stattfand, begannen sie den Aufstieg.
Nun, da die Karawane die sumpfigen, bisweilen unter Wasser stehenden Wege verlassen hatte und den breiten, sanft ansteigenden Bergpfad erklomm, kamen Menschen wie Pferde leichter voran. Allerdings verlor sich die Dankbarkeit, welche die Reisenden der wieder gnädiger gestimmten Natur entgegenbrachten, als der Weg im Laufe des Tages immer steiler wurde. Um die Tiere zu entlasten, mussten Gaukler und Erben absitzen und zu Fuß weitergehen. Alle außer Bowbaq zitterten in der Kälte, die von Dekant zu Dekant bitterer wurde, und sie beneideten den Nordländer um seine dicken Felle und den dichten Bart.
Nachdem die Reisenden gegen Mit-Tag eine kurze Rast eingelegt hatten, um eine Kleinigkeit zu essen, kam ihnen der Marsch noch beschwerlicher vor. Lana, die solche Anstrengungen nicht gewohnt war, hatte große Mühe, den anderen zu folgen, und Rey versuchte, sie mit Scherzen aufzumuntern.
Nur der majestätische Anblick von zwei hoch in der Luft schwebenden Kronenadlern unterbrach die Eintönigkeit des Aufstiegs. Immer wieder kamen sie an Schneewehen vorbei, und irgendwann verschwand die ganze Landschaft unter einer makellosen weißen Schneedecke. Die Kälte machte ihnen nun weniger zu schaffen, aber wer kein passendes Schuhwerk hatte, dem froren die durchnässten Füße.
Selbst als die Nacht hereinbrach, machten die müden Reisenden nicht Halt. Nakapan der Koloss ließ einige Laternen
anzünden und schlug vor, einen Späher vorauszuschicken, damit sie nicht vom Weg abkamen. Wie Nakapan gehofft hatte, meldete sich Grigán freiwillig für diese Aufgabe.
So stapften sie einen halben Dekant lang schweigend durch den Schnee, um Atem für den nächsten mühevollen Schritt zu sparen. Abwechselnd führten jeweils drei Männer die Pferde vor dem ersten Wagen am Zügel, und die anderen mussten immer wieder schieben helfen. Der Rest des Zugs folgte der Wagenspur.
Irgendwann waren Yan, Bowbaq und Anaël an der Reihe. Die Pferde waren erschöpft und mussten am Zaumzeug weitergezogen werden, da sie immer wieder umkehren wollten. Abermals dachte Yan über die Gründe nach, die ihn hierhergeführt hatten. Da kämpfte er sich mit einer Laterne in der Hand auf einem unwegsamen Gebirgspfad durch knietiefen Schnee und leuchtete dem Wagen romischer Gaukler den Weg. Doch dann hörte er auf zu grübeln und konzentrierte sich wieder auf das Ziel: Sie mussten Semilia erreichen.
Seine Geduld wurde belohnt, denn kurz darauf kehrte Grigán von einem seiner Erkundungsgänge zurück und verkündete, dass es nicht mehr weit sei. Die Nachricht wurde mit lautem Jubel aufgenommen. Mit neuem Schwung marschierten die Reisenden voran und erreichten schließlich eine Bergkuppe, von der aus sie die Lichter der Stadt erspähten. Dieser Anblick stimmte sie so froh, dass sie die letzte Meile unter munteren Scherzen zurücklegten.
Semilia war sehr viel kleiner, als Yan es sich vorgestellt hatte. Von oben konnte man einen Großteil des Fürstentums überblicken. In eine Senke gekauert, umringt von einem natürlichen Schutzwall aus Felswänden und einer gewaltigen
Stadtmauer, wirkte die lorelische Stadt wie eine
Weitere Kostenlose Bücher