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Götter der Nacht

Titel: Götter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Grimbert
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zurück, um zu beweisen, dass der Übergang ungefährlich war. Dann berührte er jeden kurz und forderte uns auf, es zu versuchen. Prinz Vanamel, der Kühnste unter uns, wagte sich vor.
    »Wie überaus merkwürdig!«, rief er aufgeregt. »Ich sehe Euch in der Höhle und bin doch hier auf der anderen Seite! Seht Ihr nicht, wie schön das alles ist? Es ist ein Wunder!«
    Vanamel vergaß jede Vorsicht und ging immer weiter in das Tal hinein. Er bestaunte jede Blume, jeden Stein, jeden Baum und jeden Vogel. Sein Ratgeber Saat der Ökonom eilte ihm hinterher. Einer nach dem anderen folgten die Gesandten seinem
Beispiel und überquerten die Grenze zwischen den beiden Welten.
    Ich ging als Letzter. Die eurydische Lehre bereitet uns auf vieles im Leben vor, nicht aber auf das Gefühl einer solchen Glückseligkeit. Trotzdem hatte ich eine dunkle Vorahnung. Die folgenden Geschehnisse würden zeigen, dass mein Gespür richtig gewesen war.
    »Wie ist das möglich?«, fragte ich Nol. »Wie funktioniert diese Pforte? Mit Magie?«
    Nol lächelte und sah nach oben, hoch zum Leviathan, der es offenkundig kaum erwarten konnte, in die Untiefen des Meeres zurückzukehren. »Die Magie stammt zum Großteil vom Ewigen Wächter«, erklärte er ruhig. »Nur in seiner Anwesenheit öffnet sich die Pforte, und um sie zu durchschreiten, muss man es wagen, sich ihm zu nähern. Außerdem braucht man eine göttliche Berührung.«
    Nols Worte verwirrten mich zutiefst, und so blieb ich stumm. Der Seltsame musste mich an die Hand nehmen und ins Dara hineinziehen. Als wir …«
     
    »Warum lest ihr nicht weiter?«, rief Léti nach einigen Augenblicken des Schweigens. »Ich möchte wissen, wie es weitergeht, Maz!«
    »Das ist alles«, sagte Lana traurig. »Von hier an ist die Schrift unleserlich, außer auf den letzten zehn Seiten. Aber ich hatte noch keine Zeit, das Ende zu entschlüsseln. Ich wollte Euch erst den Anfang vorlesen.«
    Die Erben machten keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung. Auf wenigen Seiten hatten sie so viel erfahren. Der Verlust des Hauptteils, in dem vermutlich noch viel aufschlussreichere Dinge gestanden hatten, war eine Katastrophe.
    Was, wenn damit ihre letzte Hoffnung verloren war?

    Obwohl Lana sie mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hatte, waren die Erben nicht müde. Die Maz war eine gute Vorleserin, und Achems Bericht hatte sie gefesselt.
    Alle wussten, dass ihnen abermals eine wichtige Entscheidung bevorstand.
    »Die Beschreibung stimmt genau«, sagte Corenn, in deren Zimmer sie sich versammelt hatten. »Die Höhle, die Pforte, das Jal’dara. Es kann sich in keinem Fall um eine Fälschung handeln.«
    »Aber von diesem Leviathan haben wir noch nie etwas gehört«, sagte Grigán, ohne der Ratsfrau damit zu widersprechen. »Trotz jahrelanger Nachforschungen …«
    »In dem Gedicht von Romerij werden die Ewigen Wächter erwähnt«, sagte Lana. » Gelobter Tag, an dem die Götter die Stimmen vernehmen. Die Pforten geöffnet, in Ketten die Wächter … Das passt.«
    »Wie kann es dann sein, dass wir das Ungeheuer noch nie zu Gesicht bekommen haben? Und auch unsere Eltern und Großeltern nicht?«
    »Das weiß ich nicht«, antwortete die Priesterin bedauernd.
    »Vielleicht muss man es rufen«, schlug Rey vor. »So wie Nol es getan hat, als er am Rand des Abgrunds stand. Oder vielleicht richtet sich der Leviathan nach bestimmten Bedingungen …«
    »Zum Beispiel?«
    »Dem Datum, der Farbe des Himmels oder dem Stand des Mondes, was weiß ich! Vielleicht ist er auch längst tot!«
    »Das würde mich wundern«, murmelte Grigán.
    Niemand widersprach ihm. Selbst wenn der Leviathan kein Gott war, war kaum vorstellbar, dass er eines gewöhnlichen Todes starb.

    »Deshalb konnten wir die Pforte also nicht benutzen«, sagte Yan nachdenklich. »Ihr Wächter war nicht da.«
    »Trotzdem haben wir das Jal’dara gesehen«, wandte Léti ein. »Tante Corenn, Grigán, Ihr habt es doch schon mehrmals gesehen! Bei jeder Zusammenkunft!«
    »Vielleicht war der Leviathan jedes Mal ganz in der Nähe«, sagte Corenn ernst. »Vielleicht wartete er auf unseren Ruf.«
    Das grauenvolle Bild von dem Untier, das sich an die Felsen des Abgrunds krallte und jedes ihrer Wort und jeden ihrer Schritte belauerte, ließ sie nicht mehr los. Was, wenn sie etwas getan hätten, das der Leviathan als Frevel empfand? Wie zum Beispiel die Zeichen in der Felswand beschädigen? Oder wenn sie versucht hätten, die Pforte ohne sein Einverständnis zu durchschreiten? Obwohl

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