Götter der Nacht
sie natürlich nicht wussten, ob das überhaupt möglich war …
»Ich glaube, das Ungeheuer ist tot«, verkündete Bowbaq, mehr, um sich Mut zu machen als aus tatsächlicher Überzeugung. »Warum sollte es nicht sterben können? Schließlich ist der Sohonische Bogen auch eine Pforte zum Jal’dara, aber sie hat sich noch nie geöffnet, weil es in ihrer Umgebung kein Ungeheuer gibt.«
»Ach nein? Und was ist mit dem Manischen Drak?«, fragte Grigán, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Er könnte ein Ewiger Wächter sein!«
Bowbaq erbleichte und starrte den Krieger entsetzt an.
»Habt Ihr diesen Drak schon einmal gesehen?«, fragte Léti neugierig. »Mit eigenen Augen?«
»Nein. Bowbaq im Übrigen auch nicht«, sagte Grigán. »Er stammt aus einer Legende, die man sich in Arkarien bei jedem unerklärlichen Tod erzählt. Selbst ein Schneelöwe wie Mir könnte einen Menschen nicht so zerfleischen, wie der
Drak es angeblich tut. Jedenfalls wurde die Legende von den sohonischen Stämmen in die Welt gesetzt!«, schloss er triumphierend.
Die anderen ließen sich von der Aufregung des sonst so beherrschten Kriegers anstecken. Aber wie sollten sie auch ruhig bleiben, jetzt, da sich die Einzelheiten zu einem Bild zusammenfügten, das endlich einen Sinn ergab? Jetzt, da sich das Geheimnis von Ji, das schon ihre Vorfahren in den Bann geschlagen hatte, zu lüften begann?
»Ein Jammer, dass das Tagebuch beschädigt ist«, sagte Léti. »Wir hätten noch so viel mehr erfahren können. Achem hat bestimmt alles aufgeschrieben, was die Gesandten im Jal’dara erlebt hatten.«
»Es bleiben uns ja noch die letzten Seiten«, sagte Yan tröstend. »Vielleicht steht dort noch etwas Aufschlussreiches.«
Alle sahen zu Lana, aber als Corenn die müden Augen der Maz sah, kam sie ihrer Bitte zuvor: »Das kann bis morgen warten«, sagte sie. »Findet ihr nicht, dass wir für heute Nacht genug Aufregung hatten?«
»Corenn, ich kann …«, begann Lana.
»Ich verbiete es Euch«, sagte Corenn mit gespielter Strenge. »Lana, das Tagebuch ist von Eurem Urgroßvater. Lasst Euch ein wenig Zeit, ihn kennenzulernen.«
Die Priesterin nickte erleichtert. Die anderen hatten immerhin einige Dekanten schlafen können, während sie die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. Ihr fehlte ganz einfach die Kraft, noch einmal mehrere Seiten von Achems Bericht zu entschlüsseln.
Zum Glück war niemand so taktlos, ihr Hilfe anzubieten. Auch wenn das Tagebuch die einzige Hoffnung der Erben war, gehörte es zuerst Lana. Alle wussten, dass Lana
ihrem sterbenden Vater geschworen hatte, es zu zerstören. Darin zu lesen, war bereits ein kleiner Eidbruch gewesen. So kamen sie stillschweigend überein, das Gewissen ihrer Freundin nicht weiter zu belasten und ihr die Entschlüsselung zu überlassen.
»Ich schlage vor, dass wir jetzt wieder schlafen gehen«, sagte Corenn. »Versucht, nicht allzu viel über das Gehörte nachzudenken, sondern Euch auszuruhen. Morgen reisen wir in den Osten. Wir werden all unsere Kräfte brauchen.«
Widerstrebend wünschten sie einander eine gute Nacht und schöne Träume. Doch die Gefährten fanden keinen Schlaf. Die Pforten, die Ewigen Wächter und das Jal’dara, die Züu, Saat und die Dämonen des Jal’karu, die Geheimnisse des Tagebuchs, ihre Reise in den Osten, Sorgen um ihre Familie oder verwirrende Gefühle füreinander hielten sie wach.
Sie brachen früh am nächsten Morgen auf, nachdem sie beim Wirt - der nebenbei ein Warenlager führte - Vorräte und fehlende Ausrüstungsgegenstände gekauft hatten. Niemand wusste, wann sie in die Zivilisation zurückkehren würden, und als sie von der goronischen Herberge fortritten, hatten die Erben das Gefühl, sich ein für alle Mal von den Oberen Königreichen zu verabschieden.
Sie schlugen den Weg zum Tal der Krieger ein und trieben die Pferde zum Trab an, denn Grigán wollte den Landstrich so rasch wie möglich durchqueren. Falls es Kämpfe gab, würden sie vermutlich erst später am Tag ausbrechen. Morgens liebten selbst Soldaten das Leben, wenn sie nicht gerade die Nacht über Wache gestanden hatten. Das Sprichwort
sagt: Wer einen Krieg gewinnen will, muss bis zum Abend warten.
Nach dem Durchzug der goronischen Armee mit ihren Fußsoldaten, Pferden, Lasttieren und Karren war der Weg in einem erbärmlichen Zustand. Grigán hatte diese Route gewählt, weil sie über einen Nebenweg führte. Die Straße zwischen der goronischen Hauptstadt und dem Tal der Krieger
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