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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Musik überließ, war so unerwartet wie fesselnd. Es musste Jahre her sein, seit er zum letzten Mal getanzt hatte; selbst bei dem rachsüchtigen Feldzug nach seiner Scheidung durch sämtliche Aufreißerkneipen der Stadt hatte er sich immer darauf beschränkt, mit den Frauen etwas an der Bar zu trinken.
    »Kannst du etwa sämtliche Queen-Songs auswendig?«, rief sie ihm zu, während sie sich drehte und wendete, als habe sie ihr Leben lang nichts anderes getan.
    »Stellst du mich auf die Probe?«, rief er übermütig zurück und stimmte in den Song ein. Als er zum zweiten Mal bei »The bell that rings inside your mind« angekommen war, ohne außer Atem zu geraten oder mit dem Tanz aufhören zu müssen, bat sie lachend um Gnade.
    Ohne zu zögern, zog er sie an sich und küsste sie.
    In das bezaubernde Gefühl der Entdeckung und Wärme, das er jedes Mal empfand, wenn er ihren Mund auf dem seinen spürte, mischte sich ein Hauch von Schuld. Er war nicht so alt, um ihr Vater sein zu können; dennoch, der Abstand zwischen ihnen beiden war zu groß, um sie zum Mitglied der gleichen Generation zu machen, und außerdem fragte er sich, ob sie durch ihre Jugend im Labor und die Phobien, die ihr Sanchez eingeredet hatte, nicht emotional noch etwas jünger war als an reinen Lebensjahren. Wenn der Alltag sie beide einholte, wenn es nicht mehr das gemeinsame Entdecken einer fast noch unberührten Natur gab, würde sie ihn immer noch mit dieser Intensität küssen, als sei er das Leben in ihren Adern? Dann verlor er sich in dem Gefühl, sie in den Armen zu halten, bis die erstaunte Stimme einer Frau sagte:
    »Bea!«
     
    Am nächsten Morgen unter den Blicken von Tess und denjenigen der Laborangehörigen, denen Tess zweifellos alles erzählt hatte, Spießruten laufen zu müssen, gehörte zu Beatrices unangenehmsten neuen Erfahrungen. Vergeblich wiederholte sie sich, dass sie niemandem Rechenschaft schuldete. Tatsache blieb, dass sie Tess, die ihr immer eine gute Freundin gewesen war, getäuscht hatte. Sie versuchte, sich zu entschuldigen, kam aber über ein »Tess…« nicht hinaus.
    »Du hättest mir die Wahrheit sagen können.«
    Sie stürzte sich in ihre täglichen Pflichten und war nicht überrascht, als sie irgendwann aufblickte und Mears vor sich stehen sah.
    »Komm mit.«
    Sie rührte sich nicht.
    »Was auch immer du mir sagen willst, kannst du mir auch hier sagen, oder?«
    »Nein«, entgegnete Mears ausdruckslos.
    Beatrices erster Impuls war, sich nicht von der Stelle zu rühren. Doch seit ihrem Mittagessen mit Mears bemühte sie sich, zumindest nicht als Erste unhöflich zu werden, und es war möglich, dass er tatsächlich etwas zu sagen hatte, das nicht für andere Ohren bestimmt war. Also stand sie auf und folgte ihm.
    Mears ging schnurstracks durch die Sicherheitskontrollen in den Wohnbereich und dann in seine Zimmerflucht. Es war das erste Mal, dass Beatrice Mears’ Wohnung betrat; sie registrierte, dass er neben dem durch die übliche Schlüsselkarte zu öffnenden Schloss noch einen zweiten Riegel hatte, der die Eingabe eines Zahlencodes erforderte. Da sie schräg hinter ihm stand, erkannte sie die Kombination; 2-7-9-6-9.
    Das Innere überraschte sie. Nicht dass er sich die Mühe gemacht hätte, das Standarddekor durch eine andere Tapete oder einen farbigen Wandanstrich zu ersetzen oder andere als die von der Firma gestellten Möbel zu benutzen. Doch an der Wand hing etwas, das verdächtig wie ein echter Magritte aussah, und auf dem Tischchen neben der Couch stand eine fragil wirkende Tänzerinnenplastik aus Bronze. In einer Glasvitrine standen alte Porzellantassen, die nicht aussahen, als handle es sich um billige Imitate. Anders als in Mears’ Büro und den Wohnungen der anderen, die sie kannte, einschließlich der ihres Vaters, fehlte die amerikanische Flagge.
    »Diese Treffen mit deinem neuen Freund werden natürlich umgehend aufhören«, sagte Warren barsch, und sie hörte auf, sich umzuschauen. Ihre guten Vorsätze hinsichtlich eines höflichen Umgangstons gerieten umgehend ins Wanken.
    »Ich habe das Recht auf ein Privatleben«, sagte sie eisig, »genau wie jeder andere Angestellte hier.«
    »Nicht, wenn es die Sicherheit des Labors gefährdet. Da verlieren selbst die normalen Angestellten ihre so genannten Rechte.«
    Er ging an ihr vorbei und warf sich auf die Couch. Zu sitzen, während sie stand, schien seine Überlegenheit jedes Mal zu verstärken.
    »Was dich betrifft - du hast überhaupt keine Rechte. Mach

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