Götterdämmerung
dir das klar. Du bist hier nur verhätschelt worden, aber falls du es nicht begriffen hast, mein Kind, sage ich es dir noch einmal in aller Deutlichkeit: Es gibt dich überhaupt nicht. Keine offizielle Geburtsurkunde, gefälschte Schulpapiere, darum hat sich Livion gekümmert. Hast du dir nie Gedanken gemacht, warum auf deiner Gehaltsabrechnung immer nur B. Sanchez steht? Zu praktisch, dass dein Vater mit zweitem Vornamen Bernardo heißt, nicht wahr? Für die Welt da draußen existierst du überhaupt nicht. Also sag mir, Bea, was hindert mich daran, dich hier festzuhalten, solange es mir passt?«
Ob er sich mit »hier« auf den Laborkomplex oder seine Wohnung bezog, war unklar. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben.
»Mach dich nicht lächerlich. Du kannst mich nicht einfach wegsperren. Auf dem Gelände sind mehr als hundertfünfzig Leute, und sie kennen mich alle. Glaubst du, sie würden diese bizarre Art von Hausarrest einfach so mitmachen?«
»Du wärst erstaunt, was Menschen alles mitmachen, wenn es um ihr regelmäßiges Gehalt geht«, sagte Mears. Seine linke Hand steckte immer noch in der Tasche seines Laborkittels und beulte sie aus, als balle er sie oder halte etwas fest.
»Nicht diese Menschen«, entgegnete sie so fest wie möglich. »Ich kenne sie. Und keiner von ihnen hat dich zum Diktator gewählt. Ist dir eigentlich schon mal in den Sinn gekommen, Warren, dass Livion, selbst wenn sie meinen Vater in ein anderes Labor versetzen sollten, dir immer noch nicht die alleinige Leitung hier übertragen würden? Die würden dir einen neuen zweiten Laborleiter vor die Nase setzen, verlass dich darauf. Vergiss nicht«, sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme spöttisch wurde, »ich habe das psychologische Profil in deiner Personalakte gesehen. Das enthält ein paar dringende Empfehlungen, die Mr. President sicher sehr gut bekannt sind. Dr. Mears sollte auf gar keinen Fall die alleinige Verantwortung übertragen werden«, schloss sie mit einem direkten Zitat.
Der Hieb saß. Manche Leute erbleichten; Mears strömte das Blut schneller ins Gesicht, und sie fragte sich mit einem Mal, ob er in ein paar Jahren einen Schlaganfall haben würde. Eine Ader an seiner Stirn fing an zu pochen.
»Du bildest dir hoffentlich nicht ein, dass dieser Mensch aufrichtig an dir interessiert ist«, sagte er abrupt und wechselte sein Angriffsziel. »Der ist hinter einer Story her, und du bist das Schaf, das naiv genug ist, um auf seine Mann-von-Welt-Allüren reinzufallen.«
Wenn nur Tess nicht so plötzlich aufgetaucht wäre und sie damit so aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, dass ihr Neils richtiger Name entschlüpft war, dachte Beatrice. Etwas von ihrem Schuldbewusstsein wich der Erbitterung darüber, dass Tess offenbar auch das kleinste Detail an Mears weitergegeben hatte.
»Sobald er alle Informationen besitzt, die er zu benötigen glaubt, hast du ihn zum letzten Mal gesehen.«
»Deine Sorge rührt mich zutiefst«, antwortete sie schroff; sie musste Zeit gewinnen und ihm nicht den Eindruck vermitteln, seine Worte würden sie treffen. Nein, es gab keinen Zweifel: Neil war diesmal nur ihretwegen nach Alaska gekommen, er kam, weil sie einen Freund gebraucht hatte; er war nur ihretwegen länger geblieben. Es hatte alles mit seiner Recherche angefangen, und sie bildete sich auch nicht ein, Neil würde ihr am Ende der Geschichte einen Heiratsantrag machen. Sie war sich ja selbst noch nicht einmal sicher, wie sie ihm gegenüber empfand. Doch all das ging Mears absolut nichts an, und er konnte nichts davon beurteilen.
»Wenn das alles war, gehe ich jetzt.«
Mears war für einen Mann seines Alters erstaunlich behände. Sie hatte die Tür noch nicht ganz geöffnet, da stand er schon hinter ihr und schloss sie wieder. Ihr war sehr bewusst, dass sie zwischen Mears und der Tür eingeklemmt war. Für einen Mann eher klein gewachsen, befand er sich auf gleicher Augenhöhe mit ihr. Noch nie hatte sie ihn aus solcher Nähe gesehen; die zusammengepressten schmalen Lippen, der kleine, leicht verkrustete Schnitt an Kinn, den er sich heute Morgen beim Rasieren beigebracht haben musste, das sorgfältig gepflegte, schüttere Haar, der blassgrüne Blick.
»Warren, was…«, begann sie ärgerlich. Dann spürte sie an ihrem Arm den Stich einer Nadel, und die Zeit begann sich zu verlangsamen.
Sinnlos, ein weiteres Mal auf die Uhr zu schauen, dachte Neil, doch er tat es trotzdem. So lang hatte sie sich noch nie verspätet. Seine Beunruhigung
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