Götterdämmerung
mal neue Kreditkarten. Deswegen bin ich zuerst mitgekommen. Ich bin nicht der, den du kennst, Neil. Das bin ich schon lange nicht mehr. Der nette Ted, das war der andere mit dem gesunden Körper. Ist schon meine Schuld, das, was ich jetzt bin. Das weiß ich.«
Neil erwiderte nichts und löste schweigend Teds Griff von seiner Hand. Dann wischte er ihm das Gesicht ab, mit der ökonomischen Routine, die ihn die Pflege seiner Mutter gelehrt hatte.
»Ich möchte etwas haben«, stieß Ted hervor, »was ich mir nicht verderbe.«
»Was ist mit deiner Schwester?«, fragte Neil plötzlich.
»Una? Die ist verheiratet, und ihr Mann ist ein Dreckskerl.«
»Trotzdem«, sagte Neil. »Sie ist deine Schwester, Ted. Denk daran, was Robert Frost geschrieben hat: Zuhause ist der Ort, wo sie dich aufnehmen müssen, wann immer du aufkreuzt. Und dann wüsste deine Frau wenigstens, wo du bist. Hast du dir schon mal überlegt, dass die Ungewissheit jetzt für sie genauso schlimm ist wie das andere?«
Bis der Morgen anbrach, hatte er Ted, der sich geweigert hatte zu schlafen, sondern auf die Straße zurückwollte, so weit gebracht, sich auf den Weg nach Iowa zu machen. Er kaufte ihm die Fahrkarte für einen Greyhound und wartete, bis der Bus mit Ted darin abgefahren war. Teds Gesicht, hinter der matten Scheibe kaum zu erkennen, war nicht mehr das Zerrbild einer Vergangenheit; er sah sich selbst. Er fragte sich, ob die Jungen aus den College-Zeiten, die sie gewesen waren, einen von ihnen beiden erkannt hätten, wenn sie ihnen vorhin auf der Straße begegnet wären.
Auch in der folgenden Nacht konnte er nicht schlafen. Teds verbrauchte Stimme klang ihm im Ohr und, in noch verstörenderer Weise, die seines Vaters, der während Neils jährlichen Besuchen in Nevada früher oder später in ein »Aber woher hätte ich das über die Strahlen wissen sollen?« ausbrach, meistens gefolgt von einem »Schau mich nicht so an, Junge, sonst fährst du gleich wieder nach Louisiana zurück!«
Gegen Mitternacht beschloss er, einen alten Bekannten anzurufen, der ihn und Matt seinerzeit mit ein paar noch lebenden Strahlenopfern in Verbindung gebracht hatte. Kalifornien lag drei Stunden zurück, was auf eine akzeptable Uhrzeit für einen Anruf hinauslief.
Nach einigem höflichen Geplaudere erkundigte er sich nach dem Namen eines guten Virologen am MIT in Cambridge.
»Das ist nicht mein Fachgebiet, aber Hugh Beresford hat einen guten Ruf. Oder Ethan Giles, aber der ist nicht eben der Umgänglichste. Er wird zum Tier, wenn man ihn von seiner Arbeit abhält.«
Bei dem Namen Giles klingelte etwas bei ihm. Im letzten Semester gab es einen Studenten dieses Namens, ein nervöser Junge, der Literatur gewählt hatte, um sich nicht ständig mit seinem Vater in Naturwissenschaften vergleichen zu müssen. Neil gab nicht gerne Einzelunterricht, aber mit dem Druck, unter dem der Junge stand, konnte er sich identifizieren; mit einigen Nachhilfestunden war es ihm gelungen, Giles junior über die Runden und in das nächste Semester zu bringen.
»Könntest du Ethan Giles morgen anrufen«, fragte er den Kalifornier, »und klären, ob er mir eine Audienz gewährt? Ich rufe ihn auch an, aber ich hätte gern vorher etwas Schützenhilfe.«
»Geht in Ordnung.«
Nach dem Gespräch konnte er immer noch nicht einschlafen. Unruhig setzte er sich an seinen Computer und ging ins Internet. Zunächst versuchte er über Google etwas über Ted zu finden, doch vergeblich; Ted hatte es wohl auch vor seiner Krankheit nie bis in die großen Nationalligen geschafft. Oder er hatte einen anderen Namen benutzt, eine Möglichkeit, die Neil, der selbst seit Beginn des Colleges den Mädchennamen seiner Mutter führte, durchaus nicht ausschloss.
Den Rest der Nacht verbrachte er damit, sein Wissen über HIV auf einen neuen Stand zu bringen. Irgendwann landete er in einem Chatraum, der offenbar von Medizinern benutzt wurde. Er fühlte sich an seine Besuche in Ländern erinnert, von deren Sprache er nur ein paar wenige Ausdrücke beherrschte. Was er dort erfuhr, war nicht eben beruhigend.
‹Oh, es gibt natürlich neue Medikamente›, antwortete ihm ein Chatteilnehmer unter dem Pseudonym Galen. ‹Aber um ehrlich zu sein, in den letzten fünf Jahren sind nur zwei wirkliche Verbesserungen bei neuen Wirkstoffen auf den Markt gekommen. Alle anderen Mittel waren Pseudoinnovationen - Kombinationen bekannter Substanzen, die nicht besser und möglicherweise sogar etwas gefährlicher sind als die
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