Idee
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[email protected] Chuck,
vergiss nie den Schlachtruf der Frauenbewegung: Alles ist politisch, sogar der Sex. Unpolitische Bücher zu schreiben, ist ergo unmöglich.
Aber du hast Glück. Die Muse hat mich geküsst und mir ins Ohr geflüstert, ich sollte mir endlich ein Thema vornehmen, das wirklich jeden angeht, und dieses Thema habe ich, obwohl es für die Massen noch immer ein Buch mit sieben Siegeln ist. Hat etwas mit Medizin zu tun. Mehr erfährst du erst, wenn ich nichts mehr von dir über patriotische Pflichterfüllung und die Pflichten eines Autors höre, sich um bessere Publicity zu kümmern. Bist du mein Agent oder ein verhinderter Bankangestellter?
Neil›
‹Betreff: Frage
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[email protected] Matt,
was weißt du über AIDS? Ich meine, wo das alles angefangen hat. Wo die ersten Fälle aufgetreten sind.
Neil›
‹Betreff: AW: Frage
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[email protected] Neil,
Rock Hudson. Rote Schleifen. Afrika. Liz Taylor, Queen, Oscar für Tom Hanks. Tausend Sachen. Sag bloß, du willst darüber schreiben, wie die wilde Party der 70er Jahre durch die Seuche der 80er zu Ende ging.
Matt
PS Ganz ehrlich, du hast mir da einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Ich verbrachte einen Tag damit, taktvolle Schreiben zu entwerfen oder mir zu überlegen, ob ich dich ohne Anmeldung besuchen soll, bis Chuck mir am Telefon erzählte, du hättest was in der Pipeline.›
‹Betreff: mea culpa
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[email protected] Matt,
nein, ich habe keine gesundheitlichen Probleme, und ich war gerade erst beim Arzt, um mir das bestätigen zu lassen. Mir scheint sogar, ich halte das mit dem Nichtrauchen diesmal durch. Mein Interesse an AIDS ist mehr beruflicher Natur. Ob afrikanische Affen aus einem Bio-Labor der Armee oder der gute alte blinde Zufall, ich möchte wissen, wie das HI-Virus ursprünglich in die Welt kam. Die originellste These stammt von einem gewissen Duesberg und besagt, dass es AIDS als Viruskrankheit überhaupt nicht gibt, aber die ist inzwischen auch schon überholt. Das ist mein neues Thema: Die Anfänge von AIDS. Vielleicht die Ursachen? Die Pest der Postmoderne - klingt doch gut? Und, vergessen wir eins nicht: wie AIDS der Pharmaindustrie ein riesiges neues lukratives Ertragsfeld eröffnete.
Neil›
‹Betreff: Hmmmm…
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[email protected] Hallo Neil,
schon besser, mein Sohn. Wenn du an das denkst, woran ich jetzt denke, könnte es etwas werden. Im Anhang findest du eine Liste der derzeitigen AIDS-Experten. Ein paar davon treiben sich sogar in deiner unmittelbaren Nähe herum. Also los, mach dich an die Recherche.
Agent in kooperativer Stimmung,
Chuck›
Der Frühling im Central Park von New York war nicht zu übersehen; neue frischgrüne Grasspitzen, die sich unter den Schneeresten überall hervorarbeiteten. Aber viele der Jugendlichen, die an Neil vorbeirannten, trugen dennoch Schlittschuhe auf ihren Rücken. Von irgendwo her konnte er die Schöne Blaue Donau spielen hören und fragte sich plötzlich, ob seine Tochter Julie noch immer für Eiskunstlauf schwärmte. Wie sie in Washington, D. C, mit seinem warmen Klima überhaupt darauf gekommen war, blieb ihm schleierhaft, aber Julie hatte im Jahr vor der Scheidung darauf bestanden, dass ihre Eltern mit ihr in jede Holiday-on-Ice-Show gingen, und geschworen, eines Tages selbst Schlittschuhläuferin zu werden.
»Haben Sie Ground Zero besucht?«, fragte die Frau, die als erste Angehörige eingewilligt hatte, Neil ein Interview zu gewähren. Ein Test. Er war sich darüber im Klaren, dass sie zumindest über das Thema seines letzten Buches Bescheid wusste.
»Nein, diesmal nicht«, erwiderte er, entgegen der Wahrheit. »Ich war dort, kurz nachdem es passiert ist.«
Er war natürlich auch diesmal wieder zu dem Ort gegangen, an dem einmal die bekanntesten Türme der Welt gestanden hatten, und die Vermarktung und Verkitschung der Trauer dort hatte ihn bestürzt, obwohl er sich sagte, dass er darauf hätte gefasst sein müssen. Die Schlange von Souvenirhändlern, die sich immer noch bis zum Broadway hochzogen und die Postkarten zur Katastrophe anboten, die Poster zur Katastrophe, die T-Shirts zur Katastrophe, die CD-ROMs zur Katastrophe und die