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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Videos zur Katastrophe riefen in ihm nur Ekel hervor.
    Dagegen hatte ihm die große Kartonwand, die in der Grand Central Station aufgestellt war, fast die Tränen in die Augen getrieben. Nach all der Zeit hingen dort immer noch Vermisstenanzeigen und persönliche Nachrufe. Hilfeschreie, unsicher mit Filzstift auf Pappe gebannt. Hat jemand meinen Vater gesehen? Meine Schwester? Meinen Sohn? Unter Computerausdrucken, amateurhaften Familienfotos standen die Namen, Namen aus allen Nationen. Chandra. Lee Singh. Pat Donahoue. Halef ibn Omar. Rosa Anderlini. Da waren sie, die Toten, verwackelt aufgenommen und verlegen grinsend; Familienfotos eben. Daddy, ich vermisse dich. Und immer wieder die Frage: Warum? Warum? Oh, warum?
    Doch er bezweifelte, dass Mrs. Strauss an einer ehrlichen Antwort auf ihre Frage gelegen war. Wenn man selbst ein Erdbeben erlebt hatte, war man nicht an Meinungen von Besuchern interessiert, die aus sicherer Entfernung nur Berichte darüber verfolgt hatten. Also verlegte sich Neil auf Verbindlicheres.
    »Das Bild werde ich genauso wenig vergessen wie das World Trade Center vorher«, fuhr er fort. »Es war mein erster Eindruck von New York, wissen Sie?«
    Mrs. Strauss zog die Augenbrauen hoch; eine Aufforderung zum Weitersprechen, wie nur sie Frauen fertig brachten.
    »Ich war ein Landei aus dem Süden«, präzisierte er, »und kam her, weil ich einen Jugendliteraturwettbewerb gewonnen hatte. Es war bereits Abend, als meine Maschine landete, aber ich wollte unbedingt noch auf das Empire State Building und das World Trade Center. Das Empire State habe ich dann nicht mehr geschafft - die Schlange war zu lang -, aber auf einen der Türme bin ich gekommen. Da war sie, die Großstadt, das Lichtermeer, und rings um mich Leute, die in allen möglichen Sprachen daherredeten. Ich dachte wirklich, ich könnte selbst fliegen, und hatte das Gefühl, es unbedingt versuchen zu müssen, über dieses Juwelengemisch aus Neon hinweg. New York. Gotham City. Metropolis.« Er lächelte sie an. »Ich war jung.«
    Sein Gegenüber hatte sich während seiner Worte etwas entspannt. Zunächst war Dinah Strauss ihm wie ein Geschöpf aus dem Fernsehen erschienen, das graublonde Haar in einem helmförmigen Schnitt, aber locker genug, um nicht abweisend zu wirken, das sorgfältig geschminkte Gesicht eine Illustration, wie man als Sechzigjährige noch ohne chirurgische Unterstützung als Fünfzigjährige durchgehen konnte. Die Sonnenbrille, die sie trug, half der Künstlichkeit nicht ab, doch sie hatte darauf bestanden, ihn nicht bei sich zu Hause zu treffen, sondern an einem der Eingänge des Central Park, den sie ihm bezeichnet hatte. Erst als sie während ihrer ersten Worte die Sonnenbrille abnahm, fand er etwas, das den perfekten Eindruck störte: Augen, die wie tiefe Brunnen wirkten, Flüsse, salzig, von Bitternis und Verlust gespeist.
    »Das waren wir alle einmal«, sagte sie jetzt. »Mr. LaHaye, ich muss gestehen, ich war überrascht zu hören, dass sich ein Autor wie Sie für Justin interessiert. Justin gibt keine spektakuläre Story ab, wissen Sie. Weder ein Krimineller noch ein Genie, das der Welt zu früh verloren ging. Einfach nur mein kleiner Bruder, der irgendwann mit dem falschen Kerl Sex hatte.«
    »Um die Krankheit geht es mir«, sagte Neil und wünschte sich, sie hätte nicht darauf bestanden, bei dem Gespräch spazieren zu gehen. Er wusste aus Erfahrung, dass er überzeugender wirkte, wenn er seinem Gegenüber in die Augen schauen konnte. Normalerweise konnte er sich darauf verlassen, dass seine Stimme bei Menschen, die keinen Grund hatten, ihm übel zu wollen, Sympathie auslöste, aber er setzte lieber auch auf seine Augen. Er benutzte, was ihm zur Verfügung stand, und die Wirkung, die er im persönlichen Gespräch ausstrahlen konnte, hatte ihm oft genug geholfen.
    »Um normale Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Um ihre Familien, um Leute wie Sie, die damals noch nicht einmal Erklärungen für diese Krankheit bekamen, ganz zu schweigen von Hilfe, weil noch niemand wusste, womit man es überhaupt zu tun hatte.«
    Am Rande nahm er wahr, dass sie nickte und ihre Sonnenbrille wieder aufsetzte.
    »Das wussten wir wirklich nicht. Kaposi-Sarkom, hieß es damals. Ein Hautkrebs, der angeblich nur in Afrika vorkäme, und da war Justin nie. Dass es AIDS gewesen sein könnte, darauf kamen die Ärzte erst Jahre später, als Justin schon lange tot war. Ein Jahrzehnt später, Mr. LaHaye, und ihm hätte

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