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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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er wäre nicht als überaus netter Mensch an die Spitze eines Pharmakonzerns gekommen. Du wusstest, dass so etwas passieren konnte. Du vor allen anderen Menschen, du mit dem Wissen, dass für die Großen dieser Welt das einzelne Leben nichts ist, wenn es ihre Macht oder ihren Profit beeinträchtigt.
    »Hi, Ben«, sagte Neil laut. Mit Koma-Patienten musste man sprechen, das stimmte, das sagten alle. Selbst wenn sie ihre Nerven nicht mehr unter Kontrolle hatten, um zu reagieren, so nahmen sie doch ihre Umgebung wahr. »Weißt du noch, die Ferien in Louisiana, die ich dir versprochen habe? Das geht klar. Die Vorbereitungen laufen schon. Es ist ordentlich heiß da unten, aber es wird dir gefallen. Habe ich dir eigentlich schon mal die Geschichte von dem dreibeinigen Alligator erzählt?«
    Alligatoren fressen ihre Jungen, sagten Bens geschlossene Augen mit den langen Wimpern, die Neil auf einmal auffielen, als sähe er sie zum ersten Mal. Hatte Ben immer so lange Wimpern gehabt? Sie fressen ihre Jungen, wenn es ihnen weiterhilft, und das hast du auch getan. Du hast deine Versprechen gebrochen, du warst nicht da für mich, wenn ich dich brauchte, deine dumme Besserwisserei kam immer zuerst, und zum Schluss warst du sogar bereit, meinen Tod in Kauf zu nehmen, nur, um weiterhin hinter einer fixen Idee herzujagen. Was macht dich eigentlich besser als Sanchez, als Mears, als Armstrong?
    »Das war ein Alligatorenjunge, den irgend so ein blöder Tourist aus Florida unbedingt als Andenken mitnehmen wollte, weil er ihn für niedlich hielt. Ein paar Monate später brachte er den Alligator natürlich wieder zurück in die Bayou. Ausgewachsene Alligatoren sind kein Spaß, das kann ich dir sagen. Boudreaux, so hieß der Alligator, verlor gleich in der ersten Woche daheim in der Bayou ein Bein, weil er das Kämpfen nicht gewöhnt war. Dann sah ihn niemand mehr, und wir dachten alle, er sei erledigt. Aber ein paar Wochen später tauchte dieser Jimmy aus Florida wieder auf. Boudreaux war den ganzen Weg zurück bis zum Golfplatz des Kerls an der Küste von Florida geschwommen und erschien in voller Lebensgröße auf dem zwölften Grün.«
    Hör mit deinen Geschichten auf, sagte der stille, sonnengebräunte Arm seines Sohnes. Hast du mich nicht dafür verkauft? Für eine Geschichte. Oh, jetzt tut es dir Leid, aber was ist, wenn man dir noch einmal den Pulitzerpreis und Armstrongs Kopf auf einem Silbertablett anbieten würde? Und selbst wenn nicht: Verrate mir doch, wirst du nicht weiterschreiben und dir vormachen, es geschähe, damit mir das nicht umsonst zugestoßen ist? Dabei tust du es nur für dich. Einzig und allein für dich selbst.
    »Was hast du Julie gesagt?«, fragte er Deirdre abrupt. »Weiß sie…«
    »Sie weiß, dass Ben einen ernsten Unfall hatte. Nicht mehr, nicht weniger. Nora wird ihr auch nichts anderes sagen; Nora weiß nicht mehr. Es gab keinen Grund, ihr zu erzählen, wer ihn auf dem Gewissen hat«, erwiderte Deirdre, und ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, wen sie meinte. Ihre Augen blieben unverwandt auf Bens Gesicht gerichtet. Sie saß auf der anderen Seite des Bettes, und Neil hätte sie berühren können, doch sie hätte sich ebenso gut auf der anderen Seite des Mondes befinden können.
    Er zwang sich, an Julie zu denken. Julie, die ihre Eltern ebenfalls brauchte. Nora war die Nachbarin, eine nette Frau, gewiss, aber nicht Familie. Deirdres Eltern, mit denen er bis zur Scheidung verhältnismäßig gut ausgekommen war, befanden sich auf einer Kreuzfahrt, und Geschwister hatte Deirdre nicht.
    Er zögerte, dann zog er sein Handy hervor. Er hatte erst ein paar Tasten gedrückt, als eine der Schwestern hereinstürzte.
    »Sie dürfen hier kein Funktelefon benutzen«, sagte sie aufgebracht. »Haben Sie das Schild am Eingang nicht gesehen? Das könnte unsere Geräte beeinträchtigen.«
    »Tut mir Leid.«
    Neil stand auf. »Ich komme gleich wieder«, sagte er, doch Deirdre gab kein Anzeichen, dass sie ihn gehört hatte. Er verließ das Krankenhaus, so schnell er konnte, blieb vor der Eingangstür stehen und wählte erneut. Es war, obwohl er es kaum glauben konnte, immer noch erst früh am Abend, und wenn er Pech hatte, dann waren sie alle irgendwo beim Essen.
    Die Töne wiederholten sich mit erzürnender Langsamkeit. Beim fünften Läuten ging jemand an den Apparat.
    »Ja?«
    Im ersten Moment erkannte er die Stimme nicht. Es war zu lange her. Dann flutete die Erinnerung zurück, und er sagte: »Tante Lou? Hier ist

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