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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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weiß, was gut für ihn ist.
    »Ist gut geheizt hier drin, Junge«, sagte ein Mann, der sich neben sie setzte. »Du solltest den Anorak und die Mütze ausziehen, du schwitzt ja.«
    Sie schüttelte stumm den Kopf. Mit jedem Blick, den der Sitznachbar ihr zuwarf, war sie sicherer, dass er zum Sicherheitsdienst von Livion gehörte und nur darauf wartete, sie in das Labor zurückzubringen. Als sie in Seward in die klare Luft hinausstolperte, war es eine Erlösung, aber der Druck auf ihrer Brust löste sich erst wieder, als sie auf der täglichen Fähre nach Valdez stand, den vibrierenden Boden unter ihren Füßen.
     
    Das George Washington University Hospital unterschied sich kaum von den anderen breitflügligen Universitätsgebäuden; das Rondell, an das es grenzte, lag nicht weit von der Mall entfernt, dem Regierungsviertel, dem alten Herzen der Stadt.
    »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen den Raum zeigen, in dem Ronald Reagan nach dem Attentat operiert wurde«, sagte die junge Internistin, in dem Bemühen, das auf Dr. Wortham wartende Elternpaar abzulenken. »Wir haben hier wirklich die besten Ärzte; was für Ihren Sohn getan werden kann, werden wir tun.«
    Dann fasste sie den Mann näher ins Auge. Er war ihr die ganze Zeit schon vage bekannt vorgekommen, aber in Washington stolperte man an allen Ecken und Enden über mehr oder weniger prominente Zeitgenossen. Soweit es den einflussreichen Teil der Bürger betraf, war die Stadt ein Dorf. Als aber einer der vielen Patienten, die in den überfüllten Gängen der Notaufnahme gemäß der Vorschrift auf Rollstühlen saßen oder aufrollbaren Betten lagen, wieder anfing zu fluchen und der Mann seinen Kopf wandte, sodass sie ihn im Profil sah, fiel der Groschen.
    »Sie sind…« dieser Kerl, der all das Zeug über Livion verfasst hat, wollte sie fortfahren, doch ihre Professionalität holte sie wieder ein, »… der Schriftsteller, nicht wahr?«
    Er nickte nur und schaute wieder in den Raum, in dem der Junge lag. Es war bisher zu gefährlich gewesen, ihn aus der Notaufnahme zu verlegen, aber sie vermutete, dass Dr. Wortham bald die Genehmigung erteilen würde.
    »Nein, danke«, sagte die Frau neben ihm mit einer automatischen Höflichkeit auf das Angebot hin, das die Internistin bereits wieder halb vergessen hatte. Die Frau war diejenige gewesen, die alle Papiere für den Jungen ausgefüllt hatte, den Vater hatte man erst aus Boston herholen müssen.
    »Wo ist Julie?«, fragte er plötzlich.
    »Daheim«, entgegnete die Frau mit einer Stimme wie erstorbenes Laub. »Mit Nora und ein paar nutzlosen Leibwächtern.«
    Die Internistin sah Dr. Wortham aus dem Zimmer kommen und entfernte sich erleichtert. Sie praktizierte noch nicht lange genug, um unter Schock stehende Eltern als Routine zu betrachten.
     
    Ein Unfall, dachte Neil, ein Unfall, es war ein Unfall. Ben hatte die Straße überquert, in Georgetown, dem harmlosen, touristenbewunderten Georgetown, hatte nichts als die Straße überquert und war angefahren worden, von jemandem, der danach Fahrerflucht begangen hatte.
    Er starrte auf den türkisfarbenen Kittel des Arztes, sah, wie sich seine Lippen bewegten, ohne ganz die Worte zu verstehen. Über die Schulter des Arztes hinweg konnte er Ben erkennen, seine kleine Gestalt, den Schädel, den sie wegen der Kopfverletzung kahl geschoren hatten.
    »… nichts weiter als beten«, sagte der Arzt.
    »Aber können wir jetzt zu ihm?«, fragte Deirdre. Der Arzt nickte, und sie betraten das Zimmer, das mit seinen fröhlichen Pastelltönen wie ein einziger Hohn wirkte. Ben war an so viele Schläuche und Monitore angeschlossen, dass es Neil an ein Spinnengewebe erinnerte. Meine Schuld, dachte er und musste sich zusammennehmen, um es nicht laut zu sagen, meine Schuld, meine übergroße Schuld.
    Während die linke Hand seines Sohnes ohne die leiseste Reaktion in der seinen lag und Deirdre Bens Rechte hielt, stürzten die Worte aus Neil wie Flutwellen, doch er brachte es nicht fertig, den Mund zu öffnen.
    Wenn ich es gewusst hätte, dachte er, wenn ich es gewusst hätte, Ben, dass sie wirklich ernst meinten, ich schwöre dir, ich hätte nicht weitergemacht. Ich wäre eher ans andere Ende der Welt mit dir und Julie gegangen, als weiterzumachen.
    Lügner, sagte der stumme, reglose Mund seines Sohnes zu ihm, Lügner. Was hast du Beatrice über die Skrupellosigkeit von Armstrong erzählt? Über Leichen würde er gehen, wenn nötig, das hast du doch gemeint mit deiner leichtfertigen Bemerkung,

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