Götterdämmerung
Neil.«
Nach einem Atemzug drang ihr aufgeregtes Plappern an sein Ohr, so punkt- und kommalos wie eh und je. Er erinnerte sich, wie Lou und Owen ihn nach dem Tod seiner Mutter festgehalten hatten, einfach festgehalten. Er erinnerte sich, wie Lou sein Beharren, allein sein zu wollen, ignoriert und ihn zwangsverpflichtet hatte, ihr in der Gemeindebibliothek zu helfen, und wie ihn das über das erste Jahr gerettet hatte. Mit Lou Bücher zu sortieren und über Land zu fahren, um irgendwo noch ein paar Exemplare umsonst aufzutreiben, weil das Budget schon wieder gekürzt worden war. Von Lou gezwungen zu werden, sich mitten im Sommer als Schneeflocke zu maskieren und den Kindern am Tag der offenen Tür vorzulesen. Er hatte es zunächst gehasst, aber es hatte ihn auf andere Gedanken gebracht. Er erinnerte sich an Owen, und wie Owen ihm erlaubt hatte, einen Welpen aus dem neuen Wurf zu behalten, obwohl sie schon vier Hunde im Haus hatten, statt sie wie üblich in ganz Morrow zu verteilen. Wie Owen ihm den Umgang mit Gewehr und Messer beibrachte und ihm genügend vertraute, keines von beiden leichtfertig zu benutzen, und das, obwohl Neil ständig in der Schule als der Vetter von Danny, dem Mörder, aufgezogen wurde.
Wie von ihnen in den jährlichen Weihnachtskarten nie Vorwürfe angeklungen waren, selbst in den letzten Jahren nicht, obwohl es in Morrow bestimmt nicht einfacher war, mit dem linken Autor Neil verwandt zu sein, als mit dem verrückten Danny.
»Tante Lou«, presste er schließlich hervor und war sich bewusst, dass sein sonst gepflegtes, akzentloses Englisch zusammenbrach, »Tante Lou, meinem Jungen ist etwas passiert.«
Als er wieder Bens Zimmer betrat, blickte Deirdre nicht auf. Neil seufzte und setzte sich auf seinen alten Platz.
»Owen und Lou kommen, sobald sie von Lafayette aus einen Flug bekommen«, sagte er nach einer Weile. Das brachte Deirdre dazu, ihn anzusehen.
»Wer?«, fragte sie tonlos. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er sie darauf hingewiesen, dass sie Owen und Lou kannte, wenngleich nur flüchtig, und selbst regelmäßig Geburtstags- und Weihnachtsgrüße an sie verfasst hatte.
»Meine Tante und mein Onkel. Julie sollte jemanden aus der Familie haben, der sich um sie kümmert.«
»Die einzigen von deinen Hinterwäldler-Verwandten, die Julie je kennen gelernt hat, waren deine Großeltern, und die sind tot«, entgegnete Deirdre schneidend. Trotz ihrer Abneigung gegen den tiefen Süden war sie normalerweise auch privat viel zu sehr die Politikerin, um einen Ausdruck wie »Hinterwäldler« zu gebrauchen. Es war ein weiteres Zeichen dafür, wie sehr sie aus dem Gleichgewicht war, und sein Schuldbewusstsein war zu groß, um auch nur den Hauch von Ärger darüber zu empfinden.
»Mag sein«, sagte Neil. »Aber sie sind gute Leute, sie haben selbst fünf Kinder großgezogen, und du wirst sehen, Julie wird sie lieben. Du willst so lange wie möglich bei Ben bleiben, ich will das auch, aber Julie braucht…«
»Wage es nicht, mir zu predigen, was Julie braucht!«, fuhr sie auf. Dann sackte ihre Stimme wieder zu dem zerstörten Klang zurück, den sie seit ihrem Anruf bei ihm gehabt hatte.
»Detective Mills hat mir erzählt, dass sie einen Wagen beobachtet hatten, der mir folgte, als ich mit Ben und Julie in der Stadt war. Keinen der unseren diesmal. Deswegen wollte ich mit dir sprechen, während deiner Alaska-Eskapade. Aber du warst ja nicht zu erreichen. Dann tat sich nichts, und ich dachte schon, Mills müsse sich geirrt haben. Bis zu dem… Unfall.«
Deirdre schluckte. Dann tat sie etwas, das Neil seit den Monaten vor ihrer Scheidung nicht mehr erlebt hatte; sie legte den Kopf auf die Bettdecke, unter der Ben lag, und weinte haltlose ohnmächtige Tränen, und jede einzelne klagte ihn schlimmer an als all ihre Worte.
»Ich weiß«, sagte er hilflos. »Ich weiß.«
Nach einer Weile straffte sie ihren Rücken und setzte sich wieder auf. Ihr Make-up war verschmiert, und er sah die Flecken auf der Bettdecke. Sie glich einem kleinen Mädchen, das mit der Schminke seiner Mutter gespielt hatte.
»Also schön«, sagte sie. »Du hast Recht, Julie braucht jemanden, der sich rund um die Uhr um sie kümmert, und Nora hat ihre eigene Familie. Ich werde Owen und Louise bei mir einquartieren. Aber du…« Sie schöpfte erneut Atem. »Es ist mir gleich, wo du wohnst, solange es nicht bei mir ist.«
Er nickte stumm. Nach einer Weile setzte sie hinzu: »Selbst du wirst jetzt aufhören, nehme ich an. Oder
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