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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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willst du Julie auch noch hier sehen?«
    Bens Hand in der seinen war so weich wie die Beatrices; eine Hand, die nie etwas raueres als Tafelkreide kennen gelernt hatte.
    »Ich werde aufhören.«
    In der linken oberen Ecke, am Fuß des Bettes, hing ein Fernsehbildschirm, der tonlos Nachrichten brachte; er registrierte Untertitel und schlechte Farbqualität. Als Neil irgendwann aufschaute, um seinen Nacken zu entspannen, flimmerte etwas über die Nachwirkungen des letzten Erdbebens in Alaska vorüber. Es war nur ein Moment. Dann wurde der Teil seines Verstands, der die Nachricht aufgenommen hatte, wieder überschwemmt von den erbarmungslos steten Tönen, die begleitet von rot flackernden Zeichen die Herzschläge seines Sohnes anzeigten.
     
    * * *
     
    »Sieh einer an«, sagte Mike Derringham, der Besitzer des Glacier Bay Country Inn, musterte zweifelnd Beatrice und kratzte sich am Kopf.
    »Ich hätte dich jetzt echt nicht erkannt. Was hast du denn um Gottes willen mit deinen Haaren gemacht, Prinzessin?«
    Natürlich ging sie ein Risiko ein, sich an einem Ort zu verstecken, den sie als Beatrice Sanchez besucht hatte. Aber Mike hatte auf sie einen so vertrauenswürdigen Eindruck gemacht, und diejenigen, die sie suchten, würden hoffentlich annehmen, dass sie in die Wildnis gezogen war oder gar den Staat längst verlassen hatte. Und hatte Mike nicht erwähnt, dass es hier noch nicht einmal einen Sheriff gab?
    Scheinargumente, sagte die Beatrice in ihrem Kopf, die noch rational dachte, verächtlich.
    Nein, sie war hier glücklich gewesen und Neil vielleicht auch. Es war ein gemeinsamer Ort. Der einzige auf der Welt, den sie außerhalb von Seward kannte.
    Inzwischen ging es ihr etwas besser; die jähen Anfälle von Hitze und Kälte hatten aufgehört, und die Kopfschmerzen waren irgendwo auf der zweitägigen Reise zwischen Valdez und Juneau verschwunden, wohin sie die Alaska Marine Highway Ferry gebracht hatte. Aber sie fühlte sich noch immer zu schwach auf den Beinen, obwohl sie versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen, und war dankbar für die Kabine gewesen, die sie all die Stunden kaum verlassen hatte.
    »Es war Zeit für eine Veränderung«, erwiderte Beatrice so unbekümmert wie möglich. Dann wurde sie ernst:
    »Ich stecke in Schwierigkeiten, Mike.«
    Die Wahrheit würde er ihr ohnehin nicht glauben, also hatte sie eine auf Wahrscheinlichkeit aufbauende Version für ihn. Zu ihrer Überraschung wollte Mike jedoch überhaupt keine Details wissen.
    »Nur zwei Fragen«, sagte er. »Hat es was mit Drogen oder Bomben zu tun?«
    »Hundertprozentig nicht«, sagte sie erleichtert.
    »Okay. Wenn du mich fragst, die Hälfte der Bevölkerung von Alaska ist hier, weil sie oder ihre Eltern in den unteren achtundvierzig in Schwierigkeiten geraten sind.«
    Sie verzichtete darauf, ihn daran zu erinnern, dass sie aus Alaska stammte.
    »Und du brauchst…«
    »Kein Geld«, entgegnete Beatrice. »Das habe ich. Einen Job und Unterkunft für ein paar Wochen.«
    Mike rieb sich das Kinn.
    »Jobs sind hier rar gesät«, meinte er. »Schließlich gibt’s außer Touristen jetzt im Sommer nicht eben viel Geschäft hier.«
    »Eben«, sagte Beatrice.
    Am Ende stimmte er zu, sie als Hilfe für alles zu beschäftigen. Sie konnte zwar nicht gut kochen und hatte nie als Putzfrau gearbeitet, aber Geschirr spülen, Sachen aufräumen und abstauben, dachte Beatrice, dergleichen bringt selbst eine wissenschaftliche Spezialkraft fertig.
    Das Zimmer, in das sie diesmal einzog, war weitaus weniger komfortabel als die schöne Wohnhütte, in der Neil und sie übernachtet hatten, doch das war ihr jetzt nicht wichtig. Es gab eine Dusche, und sie kam sich am ganzen Körper klebrig und verschwitzt vor, und ihr Nacken mit seiner ungewohnten Blöße fror. Es war ihr, als trage sie jede Minute ihrer Flucht mit sich herum, seit ihre Hand sich aus der ihres Vaters gelöst hatte. Ihr Vater und Neil. Neil und ihr Vater. Zwei Sorgen, die sich um ihren Hals klammerten wie ineinander verhakte Schlangen.
    Es geht ihnen beiden gut, wiederholte sie sich. Sicher, sie stehen im Zentrum von heftigen Auseinandersetzungen, aber das werden sie überstehen. Ganz sicher geht es ihnen beiden gut. Ist nicht das Auge eines Wirbelsturms der sicherste Ort?
    Als sie unter dem warmen Wasser stand, das in unsymmetrischen Abständen auf ihren Körper herunterprasselte, da der Duschkopf verkalkt war, löste sich etwas in ihr, und sie begann zu weinen. Was es war, hätte sie nicht sagen

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