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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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können. Ihr verlorenes Zuhause, die Sicherheit ihrer Existenz, die sie so nie wieder zurückgewinnen würde, eingetauscht hatte gegen alle Ungewissheit der Zukunft.
    Ihre Tränen mischten sich mit dem warmen Wasser und verrannen am Ende genauso spurlos im Abfluss der Dusche.
    Als sie umgezogen und mit dem irritierenden Gefühl von Kälte um ihren gestutzten Kopf bei Mike erschien, telefonierte er gerade, den Rücken zu ihr gewandt, und die ersten Worte, die sie verstand, vertrieben die warme Gelöstheit, die ihr von der Dusche geblieben war, mit einem Schlag.
    »Sicher ist sie hier«, sagte er.
    Die Haare auf ihren Armen stellten sich auf.
    »Dir meine Nelly überlassen? Vergiss es, Kumpel. Dir hätte man nie den Flugschein geben dürfen.«
    Sein Flugzeug. Er sprach von seinem Flugzeug.
    Aber, sagte ihre misstrauische innere Stimme, die mehr und mehr wie Neil klang, was ist, wenn er dich täuscht? Du bist nicht eben geschlichen, er kann dich gehört haben und redet jetzt harmlos, damit du nicht gleich wieder verschwindest.
    Willst du wirklich für den Rest deines Lebens Gespenster hinter jeder Ecke sehen?, hielt ihr eine Stimme entgegen, die sich nach Tess anhörte. Dann hättest du gleich im Labor bleiben können, denn Betrug von jedem Menschen zu erwarten, sperrt dich so sicher weg wie nur je ein System.
    Mike verabschiedete sich von seinem Gesprächspartner und drehte sich zu ihr um. »Hey, Prinzessin«, sagte er, »blond steht dir wirklich nicht.«
    »Muss es auch nicht«, erwiderte Beatrice und bemühte sich um ein schwaches Lächeln. »Schließlich will ich hier keine Wettbewerbe gewinnen.«
     
    * * *
     
    Die Tage glitten für Neil ineinander wie Glieder einer aus tot geborenen Hoffnungen und endlosem Warten geschmiedeten Kette. Nur wenige Ereignisse konnten ihn aus der unerbittlichen Eintönigkeit herausreißen; als Neil Julie wiedersah, ließ ihn die Erleichterung, dass sie ihn umarmte und mit ihm sprach, beinahe etwas wie Freude empfinden, bis ihm bewusst wurde, dass sie nicht ahnte, wie sehr er verantwortlich für den Unfall ihres Bruders war.
    Die Artikel und Fernsehbeiträge dagegen, in denen einige der namhaftesten Wissenschaftler des Landes seine im Internet veröffentlichten Anschuldigungen zerpflückten, sich über diesen Laien lustig machten, der nicht einmal die Krebsforschung von AIDS-Forschung unterscheiden konnte und seine Kenntnisse über Genetik aus Sciencefiction-Romanen bezog, rauschten an Neil vorüber, ohne dass er sie wirklich wahrnahm, selbst, wenn ihm sein eigenes Konterfei auf dem Fernseher in Bens Zimmer entgegenstarrte, begleitet von einem weiteren Resümee seines Lebenslaufs unter Auslassung aller Aspekte, die nicht ins Bild des hasserfüllten Demagogen passten. Einmal versuchte Matt, das Gespräch darauf zu bringen, besann sich dann jedoch eines Besseren.
    Die Selbstverständlichkeit, mit der Owen und Lou gekommen waren, beschämte Neil, doch als Lou irgendwann mit einer frisch gebackenen Pastete für ihn und Deirdre in Bens Krankenzimmer auftauchte, löste das ein Gefühl von lang vergessener, sicherer Wärme aus.
    »Jetzt komm mal für fünf Minuten an die frische Luft, Junge«, sagte Lou energisch, und als sie sein Mienenspiel sah, fügte sie hinzu: »Es wird nichts passieren, bis du wieder da bist, das schwöre ich dir.«
    Die warme Sonne, die trockene Hitze des hochsommerlichen Washington, die blank polierten Autos, die in rascher Folge vorbeifuhren, all das traf ihn wie ein Schlag.
    »Lass uns bis zum Weißen Haus gehen«, bat Lou.
    Das würde wesentlich länger als fünf Minuten dauern; im zügigen Schritttempo mindestens zwanzig Minuten, wenn nicht eine halbe Stunde. Lou war nicht mehr jung. Er schaute auf die untersetzte weißhaarige Frau mit ihrem Strohhut, auf dem treu vereint die amerikanische Flagge, Dixie und der Pelikan, der Staatsvogel von Louisiana, in Form von Buttons angesteckt waren, und empfand plötzlich eine tiefe Zärtlichkeit. Hinterwäldler, hatte Deirdre gesagt; weißes Pack. Aber sie waren immer für ihn da gewesen, wenn er sie brauchte, selbst nach Jahren, in denen er den Kontakt nur durch Karten und Anrufe aufrechterhalten hatte. Hatten alles stehen und liegen gelassen und waren gekommen.
    »Gehen wir.«
     
    »Ihr seht nicht gut aus, du und Miss D.«, sagte Lou unverblümt, nachdem sie eine Weile dahingeschlendert waren. Sie hatte Deirdres Namen nie richtig aussprechen können und war schon auf diese Abkürzung verfallen, als er und Deirdre erst

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