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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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verlobt gewesen waren. »Lange könnt ihr nicht so weitermachen. Esst was, tut was. Als Gespenster nützt ihr den Kindern nix. Keinem von beiden.«
    Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Solltest du doch wissen, Junge. Hat deine Mama gewollt, dass du nur bei ihr im Haus drinhockst oder hat sie dich rausgeschickt? Hmmm?«
    »Sie hatte mehr Zeit. Ich weiß nicht«, er zwang sich, die Worte auszusprechen, »ich weiß nicht, wie lange Ben noch Zeit hat. Ob er überhaupt wieder aufwacht.«
    »Aber du willst doch nicht, dass er aufwacht und du und Miss D. ihr landet gleich im Krankenzimmer nebenan, oder?«
    »Es ist meine Schuld, Tante Lou. Meine Schuld, dass ihm das passiert ist.«
    Lou blieb stehen, und obwohl sie ihm nur bis zur Brust reichte, versetzte sie ihm eine gepfefferte Ohrfeige.
    »Nun hör auf, solchen Unsinn zu schwatzen, Neil. Schuld bist nicht du. Schuld ist der Kerl, der im Auto gesessen hat. Reiß dich zusammen und sei ein Mann. Deine Mama hat dich besser erzogen.«
    »Sie und die Großeltern und du und Onkel Owen«, sagte Neil und lächelte schwach, während seine Wange brannte. Lou hatte nicht umsonst jahrelang Bücher geschleppt, Vorhänge aufgehängt und Holz gehackt, wenn Owen zu beschäftigt war. »Aber seither ist viel Wasser den Fluss runtergelaufen, Tantchen.«
    Sie rümpfte die Nase. »Kann man wohl sagen. Du hättest nicht fortgehen sollen, Neil«, setzte sie ohne Vorwurf hinzu, nur als sachliche Feststellung. »Baton Rouge oder New Orleans, das hätt’s doch auch getan. Bei den Yinkees verdorrst du. Erst setzen sie dir üble Gedanken in den Kopf, und dann nehmen sie dir übel, wenn du ehrlich bist und sie aussprichst.«
    »Der Norden hat… auch andere Seiten«, sagte er, und der Gedanke an die weißen Nächte, an die Sonne, die sich im Gletscher fing, während Beatrices Hand in der seinen lag, schälte sich unerwartet heftig aus dem Teil seines Selbst, in das er alles, was nicht Ben und Julie galt, verbannt zu haben glaubte. Rasch drängte er ihn wieder zurück. »Im Süden wäre ich auf Dauer erstickt, glaub mir. Es ist besser, dorthin zurückkommen zu können, als dazubleiben. Für mich wenigstens.«
    »Hm«, sagte Lou und verzichtete zu seiner Überraschung auf jeden Kommentar darüber, dass er in den letzten Jahren überhaupt nicht zurückgekehrt war.
    Als sie beim Weißen Haus angekommen waren, mit seinen klaren, eleganten Linien und der immer gleichen grünen Rasenfläche, glänzten ihre Augen wie polierte Knöpfe. Es war ein Wochentag, also standen nicht ganz so viele Touristen herum, um ihre Fotos zu machen und Postkarten zu kaufen, und es gab auch nur eine kleine Fünfergruppe mit Demonstranten. Lou stürzte sich auf einen der Postkartenstände und kaufte Karten. Dazu noch ein paar Anstecknadeln mit der Flagge und der Aufschrift »Gott schütze Amerika«, die sie sich alle an die Weste heftete.
    »Aber davon hast du doch schon welche«, sagte Neil.
    »Man kann nicht genug um Gottes Segen bitten, wenn in unserem Land so furchtbare Dinge geschehen«, sagte Lou einfach und strahlte erneut, als sie entdeckte, was eine Gruppe groß gewachsener schwedischer Touristen bislang verborgen hatte; eine lebensgroße Pappfigur des amtierenden Präsidenten, mit der man sich fotografieren lassen konnte.
    Bis sie in das Krankenhaus zurückgekehrt waren, trug Neil einen Beutel, in dem Lou ihre Postkarten, Anstecknadeln, einen Teddybären, der den Yankee Doodle spielte, und die zusammengelegte und aufklappbare Pappgestalt des Präsidenten hatte. Als er Deirdres unverändert neben Ben sitzende reglose Gestalt sah, krampfte sich etwas in ihm zusammen. Lou nahm ihm den Beutel ab.
    »Ich geh dann wieder. Mit eurer Metro kenn ich mich ja inzwischen aus, und Owen darf man nicht zu lang mit dem Kind allein lassen, der bringt ihr sonst noch Glücksspiel und Gott weiß was bei.«
    Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte Neil ins Ohr: »Und jetzt schau, dass du dich um Miss D. kümmerst, Junge.«
    Als sie verschwunden war, nahm Neil den Teller mit der Pastete, löste die Klarsichtfolie, brach ein Stück ab und kniete sich neben Deirdre.
    »Iss etwas, Deirdre«, sagte er. »Lou hat Recht, es nützt Ben nichts, wenn du irgendwann zusammenklappst.«
    Das Ausmaß ihrer Erschöpfung ließ sich daran ermessen, dass sie sich tatsächlich mehrere Stücke von ihm in den Mund stecken ließ, wie ein kleines Kind, und gehorsam kaute, bis wieder Lebensgeister in ihre Augen zurückkehrten und mit ihnen ein

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