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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Hass, dessen Tiefe ihn hätte frieren lassen, wenn er ihn nicht ebenfalls für sich selbst empfunden hätte.
    »Danke«, sagte sie, »aber fass mich nicht mehr an.«
    Neil stellte den Teller neben ihr ab und kehrte zu seiner Seite des Bettes zurück. »Also, Partner«, sagte er zu Ben, der so reglos dalag wie am ersten Tag, wie ein kindlicher Pharao in seinem Sarg aus modernster Technik, »das war deine Großtante Lou. Eine höchst energische Person. Es gibt nur eine Frau im ganzen Pfarrbezirk St. Landry, die es geschafft hat, sich gegen sie zu behaupten, und das ist Lily Dupont. Als ich noch klein war, sagte meine Mutter, es sei ein Segen, dass Lou in Morrow und Lily in Opelousas lebe, denn in der gleichen Ortschaft hätten sie sich längst gegenseitig umgebracht.«
    Wieder nahm er Bens Hand in die seine. Neils Verstand sagte ihm, dass Bens Körpertemperatur, da sein Körper mittlerweile ganz und gar von Maschinen gesteuert wurde, ständig gleich blieb, doch es kam ihm jeden Tag so vor, als wäre die Hand seines Sohnes ein wenig kälter, als müsse er stärker versuchen, sie zu wärmen.
    »Lily kam in den fünfziger Jahren in die Gegend von St. Landry. Damals war sie ein bildhübsches japanisches Mädel, das einen der Duponts während seines Militärdienstes in Okinawa geheiratet hatte, so heißt es jedenfalls. Sie dachte, sie käme in das Amerika aus dem Kino, das mit den Großstädten und Glastürmen und Schwimmbädern, und stattdessen landete sie im Sumpf bei einem Haufen Cajuns, die noch nicht mal gut Englisch sprachen. Keine Ahnung, wie Lily sich mit denen verständigt hat. Ihr Mann zeugte ihr in rascher Folge fünf Kinder und verschwand dann auf Nimmerwiedersehen.«
    Ein Geräusch ließ ihn zur Seite blicken. Hatte Deirdre sich geräuspert? Sie schaute unverwandt zu Ben hin.
    »Aber Lily war nicht die Art Japanerin, die in so einer miesen Situation Harakiri begeht, und zurück in ihre Heimat wollte sie auch nicht. Also zog sie mit ihren Kindern nach Opelousas und suchte sich einen Job. Inzwischen war Kennedy Präsident, und die staatlichen Stellen in den Südstaaten, einschließlich der Bibliotheken, hatten Order, auch Farbige zu beschäftigen. Das war Lilys Glück, das und der Umstand, dass der Gemeinderat von St. Landry damals noch der übliche rassistische Verein war. Auf keinen Fall wollten die einen Schwarzen einstellen. Also verfielen sie auf die einzige Asiatin im Bezirk. Womit sie nicht gerechnet hatten, war, dass sich Lily im Nu zur Hüterin der Bibliothekskasse machte und das in den nächsten dreißig Jahren auch blieb. Inzwischen ist sie eine lebende Legende. Mitte der Siebziger, und das hat dein alter Herr schon selbst miterlebt, fing ihr jüngster Sohn ein Verhältnis mit der Frau des Sheriffs an, und als der das herausfand, war er fuchsteufelswild, vor allem, weil der Bengel erst sechzehn war. Also lochte er ihn unter einem Vorwand ein, aber die Polizeistation ist in Opelousas gegenüber der zentralen Gemeindebibliothek. Lily marschierte einfach über die Straße und schrie Zeter und Mordio, sagte, dass sie ihren Sohn binnen einer Stunde wieder auf freiem Fuß und bei ihr in der Bibliothek sehen wollte und dass sie sonst den Sheriff und seine Frau belangen würde. Schon nach einer halben Stunde war der Junge wieder da, aber die Ohrfeigen, die ihm Lily verabreichte, hat niemand zählen können.«
    »Nicht gerade eine kindgerechte Geschichte«, sagte Deirdre, was das Freundlichste war, das sie bisher ihm gegenüber geäußert hatte.
    Neil zuckte die Achseln. »Mir sind die Tiergeschichten ausgegangen.«
    »Das Traurigste daran ist«, sagte Deirdre, und die fehlende Schärfe in ihrer Stimme, die Ausdruckslosigkeit, in die sie zurückglitt, machten ihre Worte umso schlimmer, »dass er im Koma liegen musste, damit du sie ihm erzählst.«
     
    * * *
     
    Sie wachte auf, weil jemand in ihrer unmittelbaren Nähe weinte. Dessen war sie sicher. Aber als Beatrice in die Wirklichkeit zurückfand und sich wieder erinnerte, wo sie war, wusste sie, dass sie sich geirrt haben musste. Sie schlief allein, und es war auch nicht so, dass sie sich selbst gehört hatte. Mit den Fingerspitzen ertastete sie ihre Wangen, ihre Augen. Trocken. Sie hatte nicht geweint, und niemand sonst war hier.
    Ihr Raum besaß kein Fenster, also knipste sie das Licht an und schaute auf ihre Uhr. Drei Uhr morgens. Zu spät selbst für Gäste, die ihr Abendessen wirklich lang hinausgezogen hatten. Dann fielen ihr die Bären wieder ein, und

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